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Angesprochen - AusgesprochenTrotz Willkommenskultur: Migration spaltet weiter die Deutschen

09. Dezember 2022, 18:59 Uhr

Obwohl gegenwärtig so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr, beherrscht das Thema Migration kaum noch die Schlagzeilen. Der Politologe und Flüchtlingsexperte von der TU Dresden, Oliviero Angeli, sieht diese Entwicklung zwiespältig. Im Interview begründet er, warum viele Deutsche die ukrainischen Flüchtlinge anders wahrnehmen als jene von 2015, die aus den Kriegsgebieten in Syrien oder Afghanistan kamen.

von Rainer Erices, MDR THÜRINGEN

  • Der Krieg in der Ukraine und die ökonomischen Folgen hat nach Ansicht von Politologe Oliviero Angeli von der TU Dresden das Thema Migration in den Schlagzeilen verdrängt.
  • Beim Thema Migration hat sich in Teilen der Öffentlichkeit "ein gewisses Sättigungsgefühl" eingestellt.
  • Trotzdem hat das Thema weiterhin ein großes Spaltungspotential, meint der Forscher.

Der Krieg in der Ukraine hält an, der Winter steht vor der Tür. Geschätzt zweieinhalb Millionen Menschen sind aus dem Land seit Ausbruch des Krieges geflohen. Wie viele die Ukraine noch verlassen werden, ist unklar – und damit auch, wie viele noch nach Deutschland kommen. Schon jetzt seien es, so sagt Oliviero Angeli, weit mehr als eine Millionen Menschen, die hierzulande Zuflucht suchen.

Bereitschaft zu helfen weiterhin groß

Deutschland und Polen seien die Länder, die die meisten ukrainischen Familien aufnehmen. Noch immer sei die Bereitschaft in der Bevökerung zu helfen groß, die innenpolitischen Debatten beschäftigen sich mit anderen Themen – im Unterschied zu 2015. Der Umgang mit Flüchtlingen und Fremdenfeindlichkeit sei damals ein entscheidendes Thema der deutschen Politik gewesen.

Jetzt, so Angeli, dominierten angesichts des Krieges und steigender Preise hierzulande soziale und wirtschaftliche Sorgen der Menschen. Selbst die rechtspopulistische AfD, die 2015 angesichts ihrer ablehnenden Haltung zu Flüchtlingen enorme Zugewinne bei Wählerstimmen verbuchte, könne mit dem Thema Migration gegenwärtig kaum punkten.

Zum Aufklappen: Politolge und Flüchtlingsexperte Oliviero Angeli

Oliviero Angeli arbeitet seit über zehn Jahren am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden und ist dort wissenschaftlicher Koodinator des Mercator Forum Migration und Demokratie. Diese Einrichtung untersucht Zusammenhänge zwischen Flüchtlingsbewegungen und Politik in Europa.

Vor 2015 kaum Erfahrung in der Gesellschaft mit Fluchtzuwanderung

Angeli sagt, diese veränderte innenpolitische Lage habe nicht nur ethnische oder kulturelle Gründe. Vor 2015 habe es in Deutschland kaum Fluchtzuwanderung gegeben. Die Öffentlichkeit sei mit Migration kaum vertraut gewesen. Die AfD habe diese Situation damals genutzt und die Flüchtlinge extrem stark politisiert. Inzwischen hätte sich beim Thema Migration in Teilen der Öffentlichkeit "ein gewisses Sättigungsgefühl" eingestellt.

Doch möglicherweise täusche die Situation. Denn fraglich bleibe, so Angeli, ob die Menschen in Deutschland nicht weiter kritisch blieben gegenüber Zuwanderung aus den Krisenregionen in Afrika oder Asien. "Wir erleben eine sehr zwiespältige Situation", sagt der Forscher, "auf der einen Seite große Solidarität und auf der anderen Seite zunehmende Skepsis."

Thema Migration hat weiter großes Spaltungspotential

Jüngste Meinungsumfragen der Forscher in Dresden hätten nämlich ergeben, dass das Thema Migration etwa für Wahlentscheidungen vermutlich weiter bestimmend sein werde. Es sei wegen der "schnellen Folge von Krisenphänomenen in den letzten Jahren" zwar schwierig, voraus zu sehen, welche innenpolitischen Themen bei der nächsten Bundestagswahl entscheidend sein werden.

Möglicherweise würden sozioökonomische Themen eine größere Rolle spielen als es noch vor ein paar Jahren der Fall war. Doch die Untersuchungen zeigen, dass Flüchtlinge und Migration als gesellschaftliche Themen weiter das größte Spaltungspotenzial in der Gesellschaft hätten, auch wenn sie gegenwärtig nicht die Schlagzeilen beherrschten. Und das gelte im Übrigen nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa, sagt Angeli.

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MDR (jw)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 10. Dezember 2022 | 18:16 Uhr