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EnergiekriseGaskrise: Arbeitslos in den Winter?

24. September 2022, 05:00 Uhr

Energie wird immer teurer. Das bringt viele Firmen und Unternehmen in finanzielle Not – nicht alle können dem standhalten. Einige müssen schließen und ihre Angestellten entlassen. Die stehen dann auf der Straße – wie Beispiele aus Sachsen-Anhalt und Thüringen zeigen.

Mit dem Fahrrad ist Petra Tittel auf dem Weg zur Arbeit. Noch, denn eine Kündigung hat die 58-Jährige bereits Anfang September bekommen – ebenso wie alle weiteren Beschäftigen der Porzellanfabrik Eschenbach. Auch dort in Triptis in Thüringen ist die Gaskrise zu spüren. Den Mitarbeitern bleiben nur noch wenige Monate, dann schließt das Werk, in dem seit rund 130 Jahren Porzellan hergestellt wird.

"Das allererste Mal habe ich tatsächlich als Ferienarbeiterin in den Achtziger Jahren hier in der Porzellanfabrik gearbeitet", berichtet Petra Tittel. "Und schon da hat es mir sehr gut gefallen und es stand für mich fest, eines Tages möchte ich gern mal hier arbeiten." Seit sechs Jahren ist die gelernte Bürokauffrau im Vertrieb der Firma Eschenbach Porzellan beschäftigt. Doch gerade weil sie das Werk seit Jahrzehnten kennt, falle ihr dessen Ende nun umso schwerer.

Auftragsbücher voll, doch Gas ist zu teuer

"Ich habe das Unternehmen vor 17 Jahren aus der Insolvenz übernommen", berichtet Inhaber Rolf Frowein. Derzeit fertigen etwa 100 Angestellte in Schichtarbeit Teller, Tassen und Töpfe. Die Auftragsbücher seien voll. "Wir stehen wirtschaftlich total solide da und hätten von dem her eigentlich überhaupt keinen Grund das Unternehmen zu schließen."

Wir stehen wirtschaftlich total solide da und hätten von dem her eigentlich überhaupt keinen Grund das Unternehmen zu schließen.

Rolf Frowein | Inhaber Porzellanfabrik

Doch zum Jahresende läuft der Gasvertrag aus. Frowein befürchtet, dass sich die Energiekosten dann verdreifachen. Das sei nicht mehr wirtschaftlich, denn das Werk verbraucht in etwa so viel Gas wie 500 Einfamilienhäuser. Die Konsequenz: Bei einer Mitarbeiterversammlung Anfang September erfuhren die Angestellten von der drohenden Schließung. "Das war eine sehr hochemotionale Betriebsversammlung, wo es viele Tränen von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch von mir gegeben hat. Das war schon sehr, sehr schwer."

Die vielen Ängste der Angestellten

Offene Rechnungen oder sogar Wegzug aus der Region – die Ängste der Mitarbeiter sind vielfältig. Klar ist, für alle hängt am Job die Existenz. "Hier bei der Arbeit ist man abgelenkt", sagt Petra Tittel. "Aber zuhause kommen eben die Grübeleien und die traurigen Gedanken. Es ist jetzt schon ein anderes auf Arbeit kommen. Die Fröhlichkeit ist weg."

Rolf Frowein sieht das so: Lieber ein selbstbestimmtes Ende mit Abfindungen für die Mitarbeiter als unkontrolliert in die Zukunft zu stolpern. Er findet: Ein Preisdeckel für Gas und Strom wäre unbedingt notwendig. Sofort. Das Zögern der Politik in Berlin versteht er nicht: "Andere Branchen haben ein Problem mit Fachkräftemangel(...) und die Erfahrung lehrt: Wer einmal weg ist, den holst du auch nicht zurück."

Experte: Wir rollen auf eine Pleitewelle zu

"Wir merken, wir rollen auf eine Pleitewelle zu, auf eine Insolvenz-Welle", sagt der Ökonom und wissenschaftliche Mitarbeiter im Bundestag für Christian Görke (die Linke), Maurice Höfgen. Die Wirtschaft brauche jetzt schnelle Hilfen, die Entlastungpakete reichten nicht aus. "Wenn Robert Habeck jetzt noch mal einen Schutzschirm für den Mittelstand ankündigt, dann braucht er dafür Geld." Doch es sei laut Finanzminister Christian Linder (FDP) kein Geld mehr da, weil er an der Schuldenbremse festhalten will. "Da ist jetzt mit dem Dritten Entlastungspaket wirklich alles ausgereizt worden. Ich sehe da nicht, wo da noch viel Spielraum ist."

Doch auf Entlastungen wird an vielen Orten gewartet. Ein Beispiel aus der Nähe von Magdeburg: Dort musste ein Dachziegelwerk des Branchenriesen Nelskamp Anfang September drei der vier Öfen stilllegen. Sonst wird dort sieben Tage pro Woche und ohne Pause produziert – 100.000 Ziegel am Tag. Nun Stillstand trotz voller Auftragsbücher.

"Vor zwei Jahren hatten wir Gaspreise, die lagen bei 20 Euro für ein Megawatt", sagt Werksleiter Dieter Beckert. "Wie wir abgeschaltet haben, lagen wir bei 320 Euro. Also absoluter Irrsinn." Bei diesen Produktionspreisen müsste ein Ziegel für fünf Euro verkauft werden, um noch einen Ertrag zu erzielen. "Das ist nicht mehr durchsetzbar in unserem Markt."

Dachziegelwerk: Die Hälfte ist in Kurzarbeit

Bereits jetzt befindet sich mehr als jeder zweite Mitarbeiter in Kurzarbeit. Einige suchen sich neue Jobs. Beckert verliert Facharbeiter, einige haben bereits gekündigt. "Die kommen mit den 60 Prozent Kurzarbeitergeld einfach nicht klar, weil sie ihren Verpflichtungen nachkommen müssen." Also suchen sich einige Fachkräfte neue Arbeit

Mit der neuen Situation und der Kurzarbeit muss sich Anlagenfahrer Günter Seifert erst noch abfinden. Normalerweise arbeitet er 200 Stunden pro Monat in der Ziegelei – nun ist er erstmal zum Nichtstun verdammt: "Weil mein Lebensinhalt hat bis jetzt immer nur in Arbeit bestanden." Er sei immer loyal gegenüber der Firma gewesen. Habe manchmal mehr gearbeitet, als von ihm verlangt worden sei. "Und nun zählt das alles nicht mehr. Keiner kann sagen, wie es weitergeht, keiner kann sagen, wie es endet."

Über 20 Jahre hat Günter Seifert im Dachziegelwerk gearbeitet und damals die ersten Maschinen mit aufgebaut. Der 62-Jährige hätte nicht gedacht, dass er den Niedergang der Firma miterlebt. Nur wenige Jahre vor der Rente, bekommt er nur noch knapp über die Hälfte seines Lohns. Von der Politik ist er enttäuscht. "Die haben zu viel Geld in der Tasche und wissen gar nicht mehr, was im normalen Leben passiert." Bei einem Einkommen von 5.000 Euro spielten die momentanen Preissteigerungen kaum eine Rolle, anders als bei etwa 1.300 Euro. "Da ist es nicht mehr egal. Und das realisieren die nicht."

Dachdecker: Baumaterial fehlt und Kunden sind vorsichtig

Putins Gaskrieg bringt nicht nur Fabriken zum Stehen, auch das Handwerk ächzt. Ohne Gas fehlt es an Baumaterialien, und die Kaufkraft sinkt. Am Ende könnte auch in der Dachdeckerei von Matthias Pohl die Kurzarbeit drohen – er kauft sonst Ziegel bei Nelskamp. "Auch unsere Kunden sagen: Ok, wir decken unser Dach nicht mehr, weil wir nicht wissen, was wir demnächst an Heizkosten bezahlen müssen." Diese Zurückhaltung bekomme er definitiv zu spüren.

Der Druck auf Handwerksbetriebe und Industrieunternehmen wächst bundesweit. "Ein Grundproblem für viele Firmen ist, dass sie so ein 'Sandwich Schock' haben", sagt Experte Maurice Höfgen. "Einerseits höhere Kosten und andererseits fehlt den Kunden das Geld." Geld, das die Kunden für Gas, Strom oder Benzin benötigten. "So sieht man, wie sich so eine Krise, die von Russland quasi kommt, quer durch die gesamte Wirtschaft frisst."

Betriebsschließung: Dann fehlt auch die Gewerbesteuer

Gibt es keine Wirtschaftshilfe wird Petra Tittel in drei Monaten ihren Job in der Porzellanfabrik verlieren. Die Sicherheit der vergangenen Jahre ist plötzlich verschwunden. Ihr Mann ist im Ehrenamt als stellvertretender Bürgermeister in Triptis tätig. Für Karsten Tittel ist klar: Auch die ganze Region steht vor schwierigen Zeiten: "Natürlich, wenn ein Porzellanwerk mit 100 Leuten schließt, die haben auch ordentlich Gewerbesteuer bezahlt. Das fällt dann auch weg." Er wisse auch nicht, welche Firma dann als nächstes schließt.

Karsten Tittel besitzt seit 32 Jahren ein Reisebüro – doch auch dort sagen bereits die ersten Kunden ab. Schon zu Beginn der Corona-Pandemie musste er seine einzige Angestellte entlassen. Nun drohen dem Ehepaar beide Einkommen wegzubrechen. "Wir haben wirklich Existenzangst", sagt Petra Tittel. Sie hat nun Angst, dass dies auch krankmache. "Das lässt einen nicht mehr los: Man träumt schlecht, man schläft schlecht, das sind wirklich Fakten."

Quelle: MDR exakt/ mpö

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 21. September 2022 | 20:15 Uhr