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Energie und HeizungGasnotstand: Was passiert im Osten von Deutschland?

16. Juli 2022, 05:00 Uhr

Was passiert, wenn Putin den Hahn bei Nordstream 1 zulassen sollte? Das fragen sich Mieter und Vermieter, Verbraucher und Unternehmen. Die Vorbereitungen für den Ernstfall laufen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – die Befürchtungen sind groß. Ein Verbandschef fordert Hilfe vom Staat und sagt, dass viel Geld benötigt und dies dafür sorgen werde, dass in Deutschland andere Dinge nicht mehr leistbar sein werden.

Auf dem Dach stehen schwarz glänzende Solaranlagen – für warmes Wasser. Die Fenster der hellgrauen Gebäude: Dreifach verglast. Energetisch ist in dem Häuserkomplex der Wohnungsgenossenschaft Altenburg (AWG) am Rande von Thüringen alles auf neuem Stand. Trotzdem: auch hier sind die Mieter von den steigenden Kosten für Gas betroffen – und für einige wird das wohl bald nicht mehr bezahlbar sein.

Deshalb überprüft AWG-Geschäftsführer Thomas Nündel gemeinsam mit einem Heizungsspezialisten, wo es noch Potenzial zum Sparen gibt: "Wir werden bald die Betriebskostenabrechnung für das Objekt erstellen", erklärt er während der Inspektion einer Heizungsanlage. Mit Blick auf das nächste Jahr versuche man "für die Mieter jeden kleinen Effizienzgewinn noch zu erreichen." Gasthermen sollen gewartet und neu eingestellt werden. Dies fordert auch die Bundesnetzagentur von Haus- und Wohnungsbesitzern in Deutschland. Wird etwa die Raumtemperatur um ein Grad abgesenkt, spart das sechs Prozent im Gasverbrauch ein.

Warmes Wasser und Heizung: Kosten steigen seit Jahren

Die Altenburger Wohnungsgenossenschaft hat ihren Mietern geraten, die Nebenkostenpauschale für die Heizkosten freiwillig pro Monat zu erhöhen, damit sie bei der Endabrechnung für das Jahr 2023 nicht vor dramatisch hohen Nachzahlungen stehen: "Also ist es so, dass sie im Bereich der Heizkosten im Durchschnitt ein Euro pro Quadratmeter Wohnfläche haben, hier wird sich eine Verdopplung mindestens einstellen", erklärt Thomas Nündel. Teilweise könnte es sogar noch höher ausfallen.

Die AWG hat im Landkreis und der Stadt Altenburg insgesamt 3.500 Wohnungen in ihrem Bestand: Während für Warmwasser und Heizung im Jahr 2020 noch rund 1,34 Millionen Euro bezahlt werden mussten, waren es ein Jahr später bereits 1,58 Millionen Euro. Für dieses Jahr erwartet die Genossenschaft schon Kosten in Höhe von 2,20 Millionen und für 2023 sogar 3,7 Millionen Euro.

Verbandschef: Zehn Prozent der Mieter werden Nachzahlung nicht leisten können

Im März dieses Jahres hat der Verband genossenschaftlicher und kommunaler Wohnungen Thüringens viele Mieter angeschrieben, die Nebenkostenvorauszahlungen freiwillig zu erhöhen: bis zu 70 Prozent der Mieter von diesen runden 264.000 Wohnungen haben davon Gebrauch gemacht. "Das macht ein bisschen Hoffnung", sagt Verbandsdirektor Frank Emrich. Doch die Frage sei: Wie viele können das nicht? Er gehe davon aus, dass etwa "zehn Prozent aller Mieterinnen und Mieter nächstes Jahr im Sommer ihre Nachzahlung nicht leisten werden können". Aus seiner Sicht brauche es Notfallfonds für betroffene Mieter.

Inzwischen warnt auch die Bundesnetzagentur vor einer Verdreifachung der Gaspreise für Verbraucher im Jahr 2023. Kunden, die heute 1500 Euro im Jahr für Gas bezahlen, müssten dann mit 4500 Euro und mehr rechnen, so Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur.

Doch nicht nur die Mieter, sondern auch die Vermieter haben ein Problem. Sie müssen – wenn es sich um große Gesellschaften handelt – mit Millionenbeträgen an die Gaslieferanten bislang ein Jahr in Vorleistung gehen. Über einen längeren Zeitraum ist das kaum leistbar. "Wir brauchen ein Instrumentarium für die Wohnungsunternehmen", fordert Frank Emrich. Bei einem Liquiditätsengpass für Vorauszahlungen an Energielieferanten würden Bürgschaften oder staatliche Fonds benötigt, um Verzögerungen zu vermeiden. Beide Unterstützungen, für Mieter und Vermieter, werden "den Staat viel Geld kosten. Und es wird lange dafür sorgen, dass wir uns anderes nicht leisten können."

Es wird lange dafür sorgen, dass wir uns anderes nicht leisten können.

Frank Emrich | Verbandsdirektor

Gas-Stopp: Das droht der Industrie

Bei der Wohnungswirtschaft geht es um enorme Preissteigerungen, aber nicht primär um die Versorgungssicherheit. Denn bislang gilt noch eine EU-Regelung, dass private Haushalte und kritische Infrastruktur vor Abschaltungen geschützt sind – die Industrie dagegen nicht. Ob das so bleiben soll, darüber wird inzwischen diskutiert. Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/ Die Grünen) befürchtet massive Folgen für die Versorgung und Ausfälle in der Industrieproduktion, sollte es zu einem länger anhaltenden Gaslieferstopp aus Russland kommen.

Ein Beispiel aus Osterweddingen in Sachsen-Anhalt: Dort steht die riesige Glasfabrik "f | glass", die zum internationalen Konzern AGC gehört. Hier wird Flachglas hergestellt, täglich eine Fläche, die bis zu zehn Fußballfeldern entspricht. Das Herzstück der Produktion ist ein überdimensionaler Ofen. Gas wird dort in der Stunde so viel verbraucht, wie in einem Haushalt in zwei Jahren, erklärt Geschäftsführer Thomas Belgardt.

Einzige Alternative für Glasfabrik in Sachsen-Anhalt: Diesel

Im Ofen sind 2000 Tonnen geschmolzenes Glas drin, rund 1.500 Grad heiß. Würde das Gas spontan abgestellt, würde die glühende Masse erstarren und einen riesigen Block bilden. Die gesamte Anlage wäre Schrott, irreparabel kaputt – ein Schaden von mindestens 50 Millionen Euro. "Das wäre existenzgefährdend. Ganz klar", so Thomas Belgardt. Die Produktion würde für mindestens 2,5 Jahre stillstehen.

"Ob wir dann jemals wieder ans Netz, in die Produktion gehen würden, das steht in den Sternen", sagt der Geschäftsführer. Er hoffe, dass das Unternehmen wenigstens so viel Gas bekomme, um den Ofen am Laufen halten zu können. Die Firma könnte den Gasverbrauch um 50 bis 70 Prozent reduzieren, wenn kein Glas mehr produziert werden würde. Das bedeutet aber hohe Kosten ohne Gewinn. Und wie lange die Firma das durchhalten könnte, ist unklar.

Energie-Experte: Folgen des Gas-Stopp schlimmer als Corona- Krise

Sonst wird dort Glas für Gewächshäuser, Baufassaden oder Solarmodule hergestellt. All diese Industriezweige wären von einem Stopp der Produktion in Osterweddingen betroffen und 250 Arbeitsplätze am Standort. Das Unternehmen hat voll auf Gas gesetzt: ein günstiger und effizienter Rohstoff, scheinbar unbegrenzt verfügbar. Das Unternehmen schaue sich nun verzweifelt nach Alternativen um, so der Geschäftsführer: "Die einzige Lösung, die realistisch erreichbar ist, wäre mit Diesel. Aber dann bräuchte man auch Minimum 50.000 bis 100.000 Liter jeden Tag, um den Ofen am Leben zu erhalten." Dabei gehe es eben noch nicht um Produktion.

Deutschland müsse sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten wirklich Gedanken um die Versorgungssicherheit machen, erklärt Andreas Fischer, Energieexperte vom Institut für Wirtschaft Köln (IW). "Auch im Kalten Krieg ist die Energie geliefert worden. Und das war in dem Sinne kein Problem." Doch momentan wisse man nicht genau, wie es mit den Gaslieferungen aus Russland weitergehe. Ein Gas-Stopp wäre ein "schwerer Schlag für den Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland, und die Folgen werden noch deutlich stärker werden als beispielsweise in der Corona-Krise."

Edelstahlwerk mit Sitz in Sachsen weiß was Gas-Stopp bedeutet

Sorgen vor einer Abschaltung des Gases gibt es auch im BGH-Edelstahlwerk Freital in Sachsen. Diese Möglichkeit sei durchaus real, wie der Geschäftsführer Sönke Winterhager aus Erfahrung weiß. Denn im dazugehörigen BGH-Werk im polnischen Kattowitz ist ihnen im Winter 2015 das Gas abgestellt worden. "Putin hat damals der Ukraine den Hahn zugeschraubt. Und die Polen hingen an der gleichen Trasse mit dran."

Das BGH-Stahlwerk habe die Order bekommen: Produktionsstopp, berichtet Sönke Winterhager. "Damit die Bevölkerung nicht erfriert." Am Standort konnte über Wochen nicht produziert werden. Da es in Polen kein Kurzarbeitergeld gibt, musste die Firma die Arbeitskräfte aus eigener Kraft weiterbezahlen, die Folge: ein enormer finanzieller Verlust für das Unternehmen. Eine Abschaltung könnte auch hier im Winter drohen – vielleicht sogar schon früher. Etwa wenn die politische Entscheidung falle, dass aus den Gas-Speichern nichts mehr entnommen werden dürfe, weil es noch für den Winter gebraucht werde.

Das Werk in Freital verbraucht rund 250 Millionen Kubikmeter Gas pro Jahr. Das entspricht ungefähr dem Gasverbrauch von rund 180.000 Wohnungen à 100 Quadratmetern. Eine Alternative zum Gas gibt es aktuell nicht. Was würde eine Abschaltung bedeuten? "Das wäre schlicht eine Katastrophe. Wir haben einfach keine Chance, in dem Werk mit nur 50 Prozent Gas zu produzieren", so der BGH-Chef. Dann laufe der ganze Prozess nicht.

Sönke Winterhager hat bereits Post bekommen, die zeigt, wie ernst die Situation derzeit ist: "Wir haben für alle unsere deutschen Standorte von unseren Gasversorgern schon entsprechende Schreiben bekommen. Dass, wenn sie sagen, wir müssen abschalten, wir sofort abzuschalten haben." Andernfalls drohten sehr hohe Strafen.

Stellt sich die Frage, wie kommt Deutschland über den Winter. Sollte durch Nordstream 1 tatsächlich kein Gas mehr kommen, werde es deutlich schwieriger mit dem Speichern, so Energieexperte Andreas Fischer. Es bliebe nur die Option mehr zuzukaufen. "Kurzfristig wurde über Norwegen und gerade auch LNG – Flüssiggas – die Option soweit gezogen". Deshalb stelle sich die Frage, ob das weiter gelingen kann. "Wenn nicht, wird es noch deutlich komplizierter wirklich mit vollen Speichern in den Winter gehen zu können."  

Quelle: MDR exakt/ mpö

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 13. Juli 2022 | 20:15 Uhr