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HeilkundeGermanische Neue Medizin: lebensgefährlich und antisemitisch

03. Juli 2022, 06:00 Uhr

Es gibt keine Probleme mit Krankheiten, sondern nur mit Konflikten – so könnte man grob die Idee hinter der sogenannten Germanischen Neuen Medizin beschreiben. Doch die Auffassung hinter dieser vermeintlichen "Heilkunde" ist nicht nur absurd und krude sowie antisemitisch, sondern für schwer erkrankte Menschen sogar lebensgefährlich.

In einem kleinen Dorf in Niedersachsen lebt jemand, der sich als eine Art Heiler gibt. Sein Name: Uwe E. "Es hat damit angefangen, dass ein Freund von uns bei ihm so eine Therapiesitzung hatte", erzählen Lena und Jens (Namen von der Redaktion geändert), die ebenfalls in dem Ort leben und sich Sorgen wegen des neuen Dorfbewohners machen. Uwe E. habe behauptet, die Borreliose des Freundes sei durch einen psychischen Konflikt verursacht. Das kam den Freunden merkwürdig vor, sie recherchierten und sind sich sicher, dass Uwe E. Methoden der sogenannten die Germanische Neue Medizin nutze.

Auf kritische Bemerkungen hin sei Uwe im persönlichen Gespräch gegen einen ihrer Mitbewohner handgreiflich geworden, berichten Lena und Jens. Auch von Drohungen erzählen sie. Gegenüber MDR exakt äußert sich Uwe E. dazu nicht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen Uwe E.

MDR-Reporter entdecken bei Recherchen mehrere Profile von Uwe E. in sozialen Netzwerken. In einem Forum beschreibt er sich selbst als "Schulabbrecher und Selbst Lerner". Auf die Frage, ob er eine medizinische Ausbildung hat, antwortet er MDR exakt nicht. Bei Facebook schreibt er über sich: "Ich praktiziere und Lehre die GNM sowie eine eigenständige Technik (…)." Bei Telegram unterhält Uwe E. zahlreiche Chatgruppen, in denen er kranken Menschen Hilfe anbietet. Dabei verweist er auch immer wieder auf die sogenannte Germanische Neue Medizin (GNM).

"Das, was die germanische neue Medizin anbietet, ist eben keine Heilkunde, die wirksam hilft, sondern eher eine Ideologie", warnt Sabine Riede von der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen. Sie berät seit über 30 Jahren Betroffene der GNM in ganz Deutschland und spricht von einer Pseudomedizin. Sie kennt mehrere Todesfälle, auch Kinder seien bereits im Zusammenhang mit der GNM gestorben. GNM "ist mit Verschwörungstheorien und antisemitischem Gedankengut durchsetzt und suggeriert Leuten, dass hinter jeder Erkrankung eine Art Konflikt steckt."

Sogenannter Heiler gibt Ratschläge bei Krebsdiagnose

Würden Erkrankte ihre Konflikte lösen, würde auch die Krankheit verschwinden – angeblich sogar Krebs, so die Behauptung in GNM-Kreisen: Solche Thesen verbreitet auch Uwe E. in sogenannten Seminaren. MDR exakt werden heimlich gedrehte Aufnahmen eines solchen Seminares zugespielt. Laut einem Gedächtnisprotokoll einer teilnehmenden Person, habe Uwe E. dort berichtet, wie viele Menschen er über seine Telegram-Gruppe erreiche und damit Geld verdiene: Es seien jetzt fast 2.000 Menschen in der Gruppe. "Das ist die einzige Gruppe, die damit Geld verdient, mit dieser medizinischen Arbeit.", so Uwe E. "Medizinische Arbeit" heißt in diesem Fall, dass Uwe E. und seine Helferinnen angeblich krankmachende Konflikte nicht nur im aktuellen Leben der Patienten suchen, sondern auch in früheren Leben oder der Ahnenreihe. Die Kosten pro Seminartag dafür: 150 Euro.

Ist das nur verschrobene Esoterik oder ist es auch gefährlich? MDR exakt will herausfinden, was Uwe E. lebensbedrohlich erkrankten Menschen rät, und entwickelt zusammen mit der renommierten Onkologin Jutta Hübner, Professorin am Universitätsklinikum Jena, eine fiktive Diagnose: Ein 27-jähriger Mann hat Hodenkrebs und der behandelnde Arzt empfiehlt schnellstmöglich eine Operation. "Dieser Fall ist so ausgesucht, dass für den Patienten, wenn es ein realer Patient wär, eine extrem hohe Heilungschance besteht", erklärt die Onkologin. Allerdings sei das Zeitfenster essentiell, man müsse rechtzeitig operieren.

In einer Chatgruppe von Uwe E. geben sich die Reporter als besorgte Partnerin des Patienten aus, schildern den Fall. Die Antwort von Uwe E. kommt per Sprachnachricht: "Wenn du nichts machst, wird es gut werden." Er empfiehlt, dass Patient und Partnerin ein "Drama" in einem Vorleben sichtbar machen sollten: "bei Kaffee und Kekse knabbern, sich einfach sportlich unterhalten, bis man das hat". Anschließend würde "das mit diesen Möglichkeiten der Technik in viele kleine Sequenzen zerteilt und gelöscht. Und weil es dann erkannt ist, ist es dauerhaft stabil und gut." Anders ausgedrückt lautet der Rat von Uwe E.: Konflikt finden, darüber reden und abwarten.

Onkologin aus Jena warnt: Das ist gefährlich

"Das ist absolut gefährlich. Denn solch ein Tumor kann sich gerade bei jungen Menschen relativ rasch entwickeln", warnt Onkologin Jutta Hübner, nachdem sie die Reaktion von Uwe E. gehört hat. "Wenn man jetzt abwartet, der Tumor fängt an zu streuen, es bilden sich Metastasen, dann ist es einmal so, dass die Heilungswahrscheinlichkeit relativ schnell abnimmt." Zum anderen würden dann die notwendigen Therapien sehr viel intensiver und ausgedehnter werden.

Da ist dann noch eine Chemotherapie und alles dabei, das heißt auch, die Folgen für den Betroffenen sind wesentlich heftiger.

Jutta Hübner | Professorin Universitätsklinikum Jena

Reporter von MDR exakt suchen Uwe E. auf und fragen ihn, warum er Krebspatienten von einer Operation abrät. Doch ein Interview will er nicht geben, auch die schriftlichen Fragen der Redaktion bleiben unbeantwortet.

Trotz möglicherweise gravierender Folgen für kranke Menschen, haben medizinische Ratschläge von sogenannten Heilern selten strafrechtliche Konsequenzen – das zeigt die jahrzehntelange Erfahrung der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen. "In den meisten Fällen kommt es gar nicht zur Anzeige. Noch viel weniger kommt es zu einer Verurteilung. Und wenn es zu einer Verurteilung kommt, sind es in der Regel Geldstrafen", sagt Sabine Riede. Sie sei der Auffassung, dass die Gesetze eigentlich ausreichend seien, doch diese müssten konsequenter angewendet werden. Es brauche Weiterbildungen für Staatsanwaltschaften und Behörden.

Heilkunde in Deutschland ohne Zulassung strafbar

In Deutschland ist es verboten jegliche Art von Heilkunde zu betreiben, ohne eine ärztliche Approbation oder eine Heilpraktiker-Genehmigung zu haben. Wer das trotzdem tut, macht sich nach Paragraph 5 Heilpraktikergesetz strafbar und kann mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden.

Im Fall von Jacqueline Klaus kam der sächsische "Heiler" mit einer Geldstrafe davon. Ihr Vater hatte Krebs an den Rachenmandeln. Im Vertrauen auf einen GNM-Heiler lehnte er alle wissenschaftsbasierten medizinischen Behandlungen ab – und starb schließlich. Selbst als der Tumor bereits eine immense Größe angenommen und hinter dem Ohr herausgewachsen war, habe der Heiler ihrem Vater noch immer gesagt "Das ist doch völlig normal", erzählt Jacqueline Klaus. Das Vertrauen auf die GNM habe ihren Vater das Leben gekostet. Er habe sehr gelitten.

Das ist ja auch das perfide bei diesen Heilslehren. Am Ende wird dem Patienten die Schuld gegeben, weil er dann doch nicht fest genug daran geglaubt hat.

Jacqueline Klaus | hat ihren Vater verloren

Denn der Patient und auch seine Angehörigen hätten aus Sicht der GNM den Konflikt nicht ordentlich genug bearbeitet. Tatsächlich schreite aber der Krebs voran. MDR exakt hatte 2015 über diesen Fall berichtet.

Ryke Geerd Hamer ist Erfinder der GNM und war ein Antisemit

Der Vater von Jacqueline Klaus hatte über seinen "Heiler" auch den Erfinder der GNM kennengelernt: Ryke Geerd Hamer. Dem war 1986 bereits wegen seiner unwissenschaftlichen und schädlichen Methoden die Zulassung als Arzt entzogen worden. Mehrfach saß er im Gefängnis, weil er Patienten geschadet hatte, bis hin zu Todesfällen. Und Hamer war ein Antisemit: "Übrigens in Deutschland kriegt kein Jude Chemo. Und die allermeisten Onkologen gehören dieser Glaubensgemeinschaft an. Sie behandeln ihre jüdischen Patienten ohne Chemo und die nichtjüdischen mit Chemo", hatte Hamer im Jahr 2010 in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk behauptet.

Er verbreitete also antisemitische Verschwörungsbehauptungen, die schlicht falsch sind. 2017 ist Hamer gestorben, doch andere Pseudoheiler verbreiten seine Lehre bis heute. Jacqueline Klaus hat ihnen den Kampf angesagt, will aufklären. Seit dem Tod ihres Vaters im Jahr 2015 vernetzt sie sich mit anderen Betroffenen, steht Menschen zur Seite, deren Angehörige an die GNM glauben: "Ich habe Betroffene, da sind ganze Ehen zerbrochen. Geschwister haben sich getrennt voneinander, haben keinen Kontakt mehr, weil der eine war GNM-Anhänger, der andere nicht. Also das ist schon eine schwerwiegende Geschichte."

Kurz vor Redaktionsschluss hat MDR exakt erfahren, dass Uwe E. das niedersächsische Dorf verlassen haben soll. Doch auch wenn bei vielen dortigen Bewohnern Erleichterung herrscht, ziehen vermutlich seine kruden Methoden mit ihm weiter.

Quelle: MDR exakt/ mpö

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 22. Juni 2022 | 20:15 Uhr