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DatenauswertungSo groß ist der Hass im Netz

02. April 2020, 05:00 Uhr

Der Hass im Netz scheint allgegenwärtig: Politiker, Engagierte oder Minderheiten sind die Opfer. Die offiziellen Zahlen von strafbaren Hasspostings wirken dabei gar nicht so hoch. Doch stimmt das – wie viele Fälle gibt es wirklich und wie sind die Länder für die Verfolgung solcher Straftaten aufgestellt? MDR "Exakt – Die Story" hat die Daten ausgewertet.

"Hoffentlich holt der nicht mehr lange Luft." Diesen Kommentar muss ein 17-jähriger Schüler über sich lesen. Jakob Springfeld aus Zwickau engagiert sich bei "Fridays For Future" und wird dafür angegriffen. Sibel Schick lebt als Autorin und Social-Media-Aktivistin in Leipzig. Die Feministin ist in der Türkei geboren. Sie bekommt Morddrohungen direkt per Mail: "Wir werden dich kleinen Kanaken bald abschlachten. Ich weiß ja wo du wohnst."

Hassnachrichten wie diese sind mittlerweile offenbar Alltag. Seit dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke, dem Attentat in Halle und dem Terror-Anschlag in Hanau versprechen Politikerinnen, stärker gegen den Hass im Netz vorzugehen. Doch wie viele Fälle gibt es wirklich und sind die Polizei und Staatsanwaltschaften in den einzelnen Bundesländern dafür ausreichend aufgestellt?

Entwicklung: Fast doppelt so viele Fälle wie 2014

Das Jahr 2015 – als in Deutschland wegen dem hohen Zuzug von Asylbewerbern erbitterte Auseinandersetzungen geführt wurden – hat das Diskussionsklima in Deutschland nachhaltig verändert. Das spiegelt sich auch in der Kriminalitätsstatistik wieder: Hasskriminalität im Internet hat sich seit 2014 fast verdoppelt. So registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) im Jahr 2014 noch 1.119 Fälle, 2018 waren es 1.962. Ein Großteil der Fälle kommt in allen Jahren von rechts.

Ein Höhepunkt wurde 2016 mit über 3.000 Fällen erreicht. Seit 2017 sinken die Zahlen zwar wieder, liegen bundesweit aber immer noch deutlich über dem Niveau von 2014. "Eine Entspannung der Lage ist nach wie vor nicht in Sicht", schreibt das BKA an MDR "Exakt – Die Story". "Bedrohungen, Beleidigungen und Aufforderungen zu Straftaten im Internet schädigen nicht nur die Betroffenen selbst, sondern schwächen das Vertrauen in die Demokratie und schaffen zunehmend ein Klima der Angst."

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Wirkliches Ausmaß von Hass im Internet wird kaum erfasst

"Exakt - die Story" wollte wissen, ob die vom BKA erhobene Zahl den Hass im Netz gut abbilden. Tatsächlich erfasst das BKA seit 2017 gesondert "Hasspostings", also solche Beiträge die öffentlich als Post oder Kommentar geschrieben wurden. 2018 waren das etwa 1400 Fälle. Doch vieles erreicht die Betroffenen auch direkt – in E-Mails oder Privatnachrichten. Diese werden von der Statistik nicht mitgezählt.

Deshalb hat "Exakt - die Story" die Fälle von Beleidigung, Bedrohung, Volksverhetzung und Aufforderungen zu Straftaten ausgewertet, die mittels Internet begangen wurden – auch solche, die in E-Mails oder Privatnachrichten verschickt wurden. Daraus ergibt sich ein anderes Bild: Bundesweit wären es demnach im Jahre 2018 mehr als 39.400 Fälle.

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Die Auswertung zeigt: Fast zwei Drittel der Hassnachrichten sind Beleidigungen, ein knappes Drittel Bedrohungen. Volksverhetzungen und Aufforderungen zu Straftaten sind der geringste Teil.

Die zeitliche Entwicklung in dieser Auswertung ist ähnlich wie die der "Hasspostings". Von mehr als 33.400 Straftaten im Jahr 2014 gibt es einen Anstieg auf knapp 40.000 im Jahr 2016. Seit dem fallen die Zahlen leicht, sind aber mit gut 39.400 im Jahr 2018 immer noch deutlich über dem Niveau von 2014.

Ein weiterer Grund für die deutlich höhere Zahl in der Statistik von MDR "Exakt - die Story": Bei den vom BKA erfassten "Hasspostings" wird ausschließlich die politisch motivierte Kriminalität berücksichtigt. Beleidigungen, die von der Polizei nicht explizit als Angriff auf die politische Haltung, Nationalität, Hautfarbe oder ähnliches eingeordnet werden, tauchen in der Statistik nicht auf.

Die Dunkelziffer dürfte sogar noch höher liegen, vermutet die innenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Irene Mihalic. Man müsse berücksichtigen, dass in den 39.400 Fällen jegliche Formen der Beleidigung abgebildet sind, nicht nur Hasskriminalität. "Nichtsdestotrotz bin ich davon überzeugt, dass sich anhand dieser Zahlen noch nicht die ganze Dimension von Hass und Hetze im Netz ablesen lässt", so Mihalic. "Das hat vor allem etwas mit dem Anzeigeverhalten zu tun, denn zahlreiche Vorfälle von Hass im Netz werden nicht angezeigt."

Trotz Anzeigen kaum Verurteilungen

Betroffene wie Jakob Springfield und Sibel Schick sind enttäuscht von den Ermittlungsbehörden. Sibel Schick hat schon zahlreiche Fälle zur Anzeige gebracht, bisher kam es zu keiner Verurteilung. Die Opferberatungsstelle "Hate Aid" berichtet, dass Täter häufig nicht ermittelt würden.

Wie viele Verfahren werden tatsächlich eingestellt, wie viele Beschuldigte können nicht ermittelt werden? Wie viele Verurteilungen gibt es? Auf Anfrage konnten die wenigsten Bundesländer dem MDR aktuelle Zahlen zukommen lassen.

Die aktuellste bundeseinheitliche Statistik erfasst rechte Hasskriminalität im Netz und ist von 2017. In dieser werden im Internet begangene Straftaten wie die Nutzung von verfassungsfeindlichen Kennzeichen und Bedrohungen abgebildet. Laut der Erhebung wurden deutschlandweit 25 Prozent der abgeschlossenen Verfahren eingestellt, weil Täter nicht ermittelt werden konnten.

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Die wenigsten Einstellungen wegen fehlender Ermittlungserfolge gab es in Sachsen-Anhalt und Thüringen – sechs und sieben Prozent der Strafverfahren aus dem Jahr 2017 wurden eingestellt, weil der Beschuldigte nicht ermittelt werden konnte. In Sachsen waren es 16 Prozent. Negativwerte dagegen in Rheinland-Pfalz und im Saarland: Hier waren es fast die Hälfte der Strafverfahren.

Wie weiter in Polizei und Staatsanwaltschaften?

Aufgrund der steigenden Zahlen haben viele Bundesländer angekündigt, in ihren Polizeibehörden oder Staatsanwaltschaften besonders auf Hass im Netz eingehen zu wollen. So sind etwa Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften im Gespräch. Einige Bundesländer starten Projekte, in denen Medienhäuser wie auch der MDR Hasskommentare an die Staatsanwaltschaften weiterleiten, um mehr Fälle von Hassposts zur Anzeige zu bringen und Täter zu ermitteln.

Nordrhein-Westfalen hat diese Idee entwickelt. Inzwischen gibt es ähnliche Projekte in Bayern, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen. Bayern hat außerdem seit kurzem einen Hate-Speech-Beauftragten in der Generalstaatsanwaltschaft.

Opferberatungsstellen fordern, dass auch bei der Polizei Beamte besser geschult werden und zentrale Stellen geschaffen werden. Tatsächlich bekommt das Thema Internethass in den Ländern immer mehr Bedeutung, bleibt aber deutschlandweit ein Flickenteppich.

In Niedersachsen und Hessen wurden bei den Landeskriminalämtern Sondereinheiten für "Hasspostings" oder "Hass im Netz" eingerichtet, die Ermittlungen wegen Hass im Netz koordinieren und in schwereren Fällen übernehmen. Im Gegensatz dazu werden in Thüringen Hasspostings von allen Polizeidienststellen bearbeitet. Es gibt keine Abteilung, die dafür gesondert zuständig ist. In Sachsen ist der Staatsschutz für die Bearbeitung von Hasspostings zuständig.

Jakob Springfeld meldete die Hasspostings gegen ihn schon im Herbst 2019 in der Polizeidirektion Zwickau in Sachsen. Sein Fall zeigt, wie kompliziert das Anzeigen noch immer ist. Obwohl ein Teil der Kommentare im Internet frei verfügbar sind, das Social-Media-Team der Polizei Sachsen Screenshots gesichert hatte und die Beamten der Polizei Zwickau die Kommentare schon vor einem halben Jahr abfotografiert hatten, muss Jakob ein halbes Jahr später noch einmal zur Polizeidirektion und soll die Screenshots noch einmal auf einem Stick vorbeibringen. Die werden derzeit von der Polizei ausgewertet.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Exakt - die Story | 01. April 2020 | 20:45 Uhr

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