MinderjährigenhaftungWie Kinder unverschuldet in Schulden geraten sind
Die Sozialkassen können Schulden der Eltern von deren Kindern einfordern, wenn die Eltern zahlungsunfähig sind. Dann erhalten sie zum 18. Geburtstag Post vom Amt. Die Bundesregierung wollte die sogenannte Minderjährigenhaftung entschärfen. Allerdings sind nach wie vor über 600.000 junge Menschen dadurch in Schulden und sollen diese irgendwie zurückzahlen.
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Als Kind hat sich Justin beim Jobcenter verschuldet – ohne es zu wissen. Der Grund: Das Amt hatte seiner Mutter als Hartz-IV-Empfängerin zu viel Geld überwiesen. Sie wurde "überzahlt" und weil es bei ihr nichts zu holen gab, übertrug das Amt die anteiligen Schulden auf den damals minderjährigen Justin: 1.400 Euro.
"So eine Summe Geld habe ich noch nie gesehen, und dass ich das alles bezahlen muss, auf einen Schlag", sagt Justin, der inzwischen 23 Jahre alt ist. Er habe sich wie ein Verbrecher gefühlt und sich gefragt: "Was habe ich falsch gemacht?" Als er noch minderjährig war, wohnte er mit seiner Mutter und zwei älteren Geschwistern in einer Wohnung mit vier Zimmern in Leipzig. Als die großen Geschwister auszogen, war die Wohnung für zwei Personen zu groß. Doch der Wohnraum auf dem überhitzten Leipziger Mietmarkt ist knapp und ein Umzug klappte nicht so schnell, wie vom Jobcenter gefordert. So entstand die sogenannte "Überzahlung". Den anteiligen Betrag von Justin aus dieser Bedarfsgemeinschaft – von dem er keinen Cent gesehen hat – übertrug das Amt als Schulden auf den Jugendlichen.
Justin ist mit dem Problem nicht allein. Im August 2022 hatten knapp 600.000 junge Menschen in Deutschland Schulden nach der sogenannten Minderjährigenhaftung. Diese Schulden kommen so zustande: Bezogen Vater, Mutter und Kinder als Bedarfsgemeinschaft Hartz-IV oder jetzt Bürgergeld und erhalten zu viel Geld vom Amt, so müssen sie dieses zurückzahlen. Können sie es nicht, übertragen sich diese Schulden am 18. Geburtstag – anteilig – auf das dann nicht mehr minderjährige Kind.
Neues Gesetz soll Abhilfe schaffen
Dieses Konzept der Minderjährigenhaftung im Zusammenhang mit Sozialleistungen hält Ines Moers für sinnlos. "Ich würde behaupten, wenn die Leistungen an die Eltern gewährt wurden, weil sie offensichtlich und es dann über Jahre auch nicht eingetrieben werden konnte von den Eltern", so die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung: "Dann wäre es total hilfreich auch zu sagen, wenn es bis zum 18. Geburtstag nicht eingetrieben werden konnte, dann ist es danach auch von den Kindern nicht mehr einzutreiben. Also ich halte es für sinnlos, das auch von den Kindern dann zum 18. Geburtstag einzutreiben."
Also ich halte es für sinnlos, das auch von den Kindern dann zum 18. Geburtstag einzutreiben.
Ines Moers | Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung
Auch die Ampel-Regierung sah offenbar Nachbesserungsbedarf bei der Minderjährigenhaftung und hat die Schuldenrückzahlung gesetzlich neu geregelt. Nur wer an seinem 18. Geburtstag mindestens 15.000 Euro auf seinem Konto hat, der muss die Schulden seiner Eltern zahlen. Ist es weniger, ist man befreit. Einen Antrag auf diese Befreiung muss man trotzdem stellen.
Nur: Für die knapp 600.000 Altfälle – wie Justin – gelten die Erleichterungen durch das neue Gesetz nicht. Sie müssen die Schulden ihrer Eltern weiter anteilig abzahlen.
Werden verschuldete Menschen vergessen?
"Ich finde die Regelung mit der Schuld für Minderjährige auch nicht gut", sagt Annika Klose. Die SPD-Bundestagsabgeordnete war maßgeblich am Zustandekommen des Bürgergeldgesetzes beteiligt, welches auch die Beschränkung der Minderjährigenhaftung regelt. "Aber, wenn man jetzt eine rückwirkende Wirkung einführen würden, wäre ja die Frage: Wo soll man denn anfangen und wie ist das mit denjenigen, die ihre Schulden abbezahlt haben? Diese Gesetzgebung galt ja die letzten 20 Jahre. Das heißt, man wird das nicht wirklich rückwirkend beheben können." Deshalb habe man sich für einen klaren Cut entschieden. "So wie es bei allen Gesetzen ist, gilt auch das Bürgergeldgesetz eben nicht rückwirkend, sondern zu dem Zeitpunkt wo es eingeführt wird."
Dagegen findet Ines Moers von der Schuldnerberatung, dass ein Schuldenschnitt möglich gewesen wäre: "Als 2013 die Krankenversicherungspflicht eingeführt wurde, gab es ein Beitragsschuldenerlassgesetz oder so ähnlich. Das hätte man vielleicht als Vorlage nehmen können." Doch stattdessen erlebe sie ganz häufig: "Dass ver- und überschuldete Menschen auch bei Gesetzgebungsverfahren vergessen werden."
Geldmangel wegen Schulden-Rückzahlung
Justin war bei der Schuldnerberatung und konnte das Geld tatsächlich abstottern – doch es war ein enormer Kraftakt für den jungen Mann, der von den ganzen Vorgängen im Amt keine Ahnung hatte. "Also ich habe fast zwei Jahre gebraucht, um die gesamte Summe zu bezahlen." Jeden Monat habe er 50 Euro an das Jobcenter gezahlt, trotz aller Schwierigkeiten. "Es gab schwierige Zeiten: Ein Ausbildungswechsel, Schicksalsschläge, Corona kam ja auch hinzu. Dann gab es erst mal ein bisschen Geldmangel."
Wenn Justin einmal etwas in Verzug geraten sei, habe das Jobcenter sofort einen Brief geschrieben und gedroht, die Ratenzahlung aufzulösen. Dann hätte der gesamte Betrag mit einem Schlag bezahlt werden müssen. "Also die letzte Summe, das war dann dieses Jahr. Bis dahin habe ich das durchgehalten und jeden Monat 50 Euro dort hingeschickt." Er hat es geschafft, andere scheitern daran.
Quelle: mpö
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 31. Mai 2023 | 20:15 Uhr