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Buch "Freiheitsschock"Historiker Kowalczuk provoziert mit neuen Thesen über Ostdeutsche

25. August 2024, 07:45 Uhr

Erneut mischt sich der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk mit steilen politischen Thesen in die Debatte um Ostdeutschland ein. In seinem neuen Buch "Freiheitsschock" erklärt er, warum AfD und BSW vor allem im Osten starken Zuspruch erfahren. Mit seiner Analyse will er die Debatte über den Wert von Freiheit und Demokratie vorantreiben, doch sie enthält einige unangenehme Wahrheiten.

  • Viele Ostdeutsche würden den Wert der Freiheit nicht schätzen, argumentiert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem neuen Buch "Freiheitsschock".
  • Den Parteien AfD und BSW wirft er vor, ein autoritäres Regime nach dem Vorbild Russlands aufbauen zu wollen.
  • Viele Ostdeutsche sehen sich laut Kowalczuk als Opfer, das sei allerdings eine einseitige Perspektive.

Diesmal bekommen nicht nur die Wessis ihr Fett weg, sondern vor allem die Ostdeutschen müssen sich im Buch "Freiheitsschock" anhören, dass sie mehrheitlich den Wert der Freiheit nicht achten. Darin sieht Autor und Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk den Hauptgrund dafür, dass die Feinde der Demokratie hierzulande so viel Zuspruch erhalten.

"Ich sehe nicht nur die Errungenschaften und das Erbe der Freiheitsrevolution von 1989 bedroht, sondern ich sehe insgesamt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und Europa bedroht", sagte Kowalczuk MDR KULTUR. Ostdeutschland schicke sich an, mittels AfD und BSW eine Vorreiterrolle zu übernehmen, lautet der Befund des Historikers.

Ich sehe Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und Europa bedroht.

Ilko-Sascha Kowalczuk

Russland als undemokratisches Vorbild

Der Autor argumentiert, AfD und BSW seien sich einig in ihrer Diskreditierung und Ablehnung der liberalen, repräsentativen Demokratie, denn beiden gehe es darum, ein autoritäres Regime zu etablieren.

Im Kern geht es [AfD und BSW] darum solch ein Regime zu begründen wie in Russland.

Ilko-Sascha Kowalczuk

Die beiden Parteien seien "Gefolgsleute der blutrünstigen Putin-Diktatur" und "gegen die sich im Freiheitskampf befindenden Ukrainer". Kowalczuk stellt fest: "All diese Debatten um Frieden oder Nicht-Frieden, sind alles Scheindebatten, weil im Kern geht es ihnen darum, solch ein Regime zu begründen wie in Russland."

Friedliche Revolution für den Traum von Wohlstand

Bei seiner Ursachenforschung kommt Kowalczuk immer wieder auf die Friedliche Revolution zu sprechen. Es sei ein Irrglaube, dass die Ostdeutschen 1989/90 mehrheitlich für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen seien. Den meisten sei es um Wohlstand gegangen, wobei sie sich ein völlig idealisiertes Bild vom vermeintlich "goldenen" Westen gemacht hätten. "Aus dieser Selbsttäuschung entstand dann eine große Enttäuschung, die in Wut und Ablehnung umschlug", erklärt Kowalczuk.

Bei vielen schlug laut Kowalczuk die euphorische Stimmung von 1989 später in Wut und Ablehnung um. Bildrechte: picture-alliance / dpa | Wolfgang Kumm

Ostdeutsche sind nicht nur passive Opfer

Wut und Ablehnung gingen einher mit einer Opferrolle, in der sich viele Ostdeutsche eingerichtet hätten. Dieses Narrativ aber, das auch die Radikalen rechts und links gerne bedienen, ist offenkundig trügerisch. Denn mit der Volkskammerwahl vom März 1990 hatte sich die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen – entgegen vielen Warnungen – für den schnellen Beitritt zur BRD und die rasche Währungsunion entschieden – mit allen wirtschaftlichen und sozialen Folgen.

Insofern waren die Ostdeutschen ein Akteur dieser Entwicklung, anders als dies auch der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann in seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" (erschienen 2023 bei Ullstein) darstelle. Die Ostdeutschen als passives Opfer einer westdeutschen Übernahme darzustellen, sei eine völlig einseitige Perspektive.

Kowalczuk zeigt auf, was bei Oschmann auch nicht vorkomme, seien die staatspolitischen Vorstellungen der Ostdeutschen. "Warum fremdeln viele Ostdeutsche mit Demokratie und Freiheit?", fragt Kowalczuk. Das könne nicht nur daran liegen, dass Ostdeutsche unfair behandelt wurden, so Kowalczuk, räumt zugleich aber ein: "Natürlich gab es hunderttausendfache ungerechte biografische Abbrüche in den 90er-Jahren. Das leugnet niemand." Er selbst hat genau diese Abbrüche in seinem Buch "Die Übernahme" (erschienen 2019 bei C.H. Beck) dargestellt.

Ilko-Sascha Kowalczuk wuchs in Ostberlin auf. Sein Geschichtsstudium konnte er erst nach dem Mauerfall aufnehmen. Bildrechte: Ekko von Schwichow

Warum fremdeln viel Ostdeutsche mit Demokratie und Freiheit?

Ilko-Sascha Kowalczuk

Kowalczuks "andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute", wie der Untertitel des Buchs lautet, enthält einige unangenehme Wahrheiten. Nicht immer ist sein Urteil ausgewogen. Im Gegenteil: Kowalczuk zeichnet mit grobem Stift. Und will – so sagt er selbst –, die Debatte über den Wert von Freiheit und Demokratie vorantreiben. Ob seine Botschaft womöglich eine heilsame Wirkung entfaltet, steht dahin. Sie zur Kenntnis zu nehmen, wäre ein erster Schritt.

Informationen zum Buch

Ilko-Sascha Kowalczuk:
"Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute"
Erschienen am 21. August 2024
ISBN: 978-3-406-82213-1
240 Seiten
22 Euro

Bildrechte: Verlag C. H. Beck

Quelle: MDR KULTUR (Stefan Nölke)
Redaktionelle Bearbeitung: hro

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 24. August 2024 | 19:00 Uhr