Zeichnung von Männern in einem Zimmer, die an einem Tisch sitzen. Im Hintergrund sitzen zwei Männer auf einem Hochbett 8 min
Video: Geflüchtete haben zuletzt immer wieder für Schlagzeilen gesorgt – oft aufgrund von Gewalttaten. Doch was steckt dahinter? Bildrechte: Schwarwel

Unentdeckte Radikalisierung Geflüchteten fehlt es an Integrationsangeboten und psychologischer Beratung

14. März 2025, 05:00 Uhr

Eine Messerattacke am Holocaust-Mahnmal in Berlin, ein Anschlag mit dem Auto auf eine Demonstration in München. Das sind zwei Beispiele für Gewalttaten, die Menschen verübt haben, die eigentlich selbst nach Deutschland geflüchtet sind, um hier sicher zu sein. Wer bekommt mit, wenn Geflüchtete anfangen sich abzusondern und zu radikalisieren? Inwiefern greifen Hilfsangebote und wo sind Lücken im System?

Mitte Februar wurde ein Tourist am Holocaust-Mahnmal in Berlin mit einem Messer attackiert. Der mutmaßliche Täter ist ein 19-jähriger Geflüchteter. Sein vermeintliches Motiv: Antisemitismus. Der junge Syrer Wassim Al M. lebte vor der Tat in einer Gemeinschaftsunterkunft im Leipziger Norden.

Jetzt, nach dieser Gewalttat werden Fragen gestellt wie: Werden Anzeichen von Radikalisierung übersehen? Wie werden Geflüchtete betreut und welche Hilfen bekommen sie?

Vereine kämpfen mit hoher Nachfrage und unsicherer Finanzierung

Der Leipziger Mosaik e.V. bietet psychologische Beratung speziell für Geflüchtete an. Dort im Psychosozialen Zentrum werden vor allem Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus betreut, denn diese haben in den ersten 36 Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland nur in absoluten Notfällen Anspruch auf ärztliche Leistungen und Psychotherapie. Musiktherapie kann zum Beispiel helfen, dass Betroffene anfangen sich zu öffnen. Marie Lehmann, Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit im Verein, erklärt, wer psychischen Belastungen ausgesetzt war, für den sei es besonders wichtig, solch einen sicheren Raum zu haben. Behandelt werden unter anderem Angstzustände, Depressionen und Panikattacken.

Eine Frau legt Zettel auf den Boden innerhalb eines Stuhlkreises.
Musiktherapie, wie sie auch der Leipziger Mosaik Verein für Geflüchtete anbietet, kann bei psychischen Problemen helfen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Bundesweit gibt es nur 52 Orte wie diesen. Die Nachfrage ist dementsprechend hoch. Seit vielen Jahren kann der Mosaik e.V. nicht alle betreuen, die sich an den Verein wenden. "Unsere Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass die Finanzierung immer nur für ein Jahr gesichert ist. Und das heißt, wir müssen uns jedes Jahr von den Klienten im Dezember verabschieden und sagen: Wir wissen nicht, ob wir im Januar wieder für sie da sein können", fasste 2016 die Psychologin beim Mosaik e.V., Corinna Klinger, die Situation im Interview mit MDR INVESTIGATIV zusammen.

Aktuell sei die Lage sogar noch schlechter, so der Verein. Wegen der unklaren Haushaltslage in Sachsen könne im Moment nur eine Notversorgung angeboten werden, obwohl jährlich ca. 300 neue Anfragen zusätzlich zu aktuellen Fällen reinkämen.

Nur ein Bruchteil erhält psychologische Betreuung

In einem Projekt des Vereins, erzählt Lehmann, gehen Sozialarbeiter auch in Gemeinschaftsunterkünfte. "Wir sind auch in den umliegenden Landkreisen regelmäßig vor Ort gewesen in der Vergangenheit, bevor jetzt unsere Notversorgung eingetreten ist." Diese Besuche seien auch wieder geplant. "Aber bei Weitem reichen unsere Kapazitäten nicht aus, um die Bedarfe wirklich in einem zufriedenstellenden Maß abzudecken."

Bisher können nur gut vier Prozent der Geflüchteten in Deutschland, die so eine Beratung brauchen, von den psychosozialen Zentren betreut werden. Marie Lehmann ist es wichtig, klarzustellen, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen einer psychischen Erkrankung und einem Gewaltpotential gibt.

Ausschlaggebend für eine Radikalisierung sind Lehmann zufolge eher die Lebensumstände, etwa auch die Umgebung in einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer Erstaufnahmeeinrichtung. "Denn dort leben Menschen in instabilen Lebensverhältnissen. Sie sind dort isoliert von der restlichen Gesellschaft."

Perspektivlosigkeit macht anfällig für Radikalisierung

Isolation und schlechte Zukunftsperspektiven machen die Betroffenen anfälliger für radikale Inhalte. Professor Michael Kiefer ist von der Universität Osnabrück und befasst sich seit 20 Jahren mit Islamismus und Radikalisierungsprävention und erklärt, dass vor allem Soziale Medien wie TikTok eine große Rolle spielen. "Ein Problem scheint mir tatsächlich auch zu sein, dass diese Leute aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit viel Zeit ohne sinnhaftes Tun verbringen." Gelegenheiten für Beschäftigungen, Gespräche und vieles andere "wären ein Schritt in die richtige Richtung, können aber letztendlich solche Prozesse nicht zwangsläufig verhindern".

Ein Problem scheint mir auch zu sein, dass diese Leute aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit viel Zeit ohne sinnhaftes Tun verbringen.

Michael Kiefer, Islamwissenschaftler

Eine Perspektive für Menschen mit Fluchterfahrung bietet das Projekt "Wir sind Paten" im Leipziger Westen. Wöchentlich findet dort das Sprachcafé statt, bei dem spielerisch Deutschkenntnisse geübt werden. Mohammad Khaitou kommt aus Syrien, studiert nun in Leipzig Soziale Arbeit und hat hier in der Initiative einen Minijob. Für richtige Integration brauche es seiner Meinung nach aber mehr als das Sprachcafé. "Also zum Beispiel Angebote, wo es um die Gesellschaft geht. Und dass die Menschen zusammenkommen, dafür braucht es noch mehr Angebote in der Stadt."

Portrait Mohammad Khaitou
Der Syrer Mohammad Khaitou findet das Sprachcafé wichtig, dennoch brauche es Angebote, die darüberhinaus gehen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Frauen sitzen um Nähmaschinen 2 min
Bildrechte: MDR/Hanna Kazmirowski
2 min

MDR SACHSEN-ANHALT Do 05.12.2024 14:30Uhr 02:25 min

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Fehlende Integrationsprojekte sind das eine Problem. Ehrenamtskoordinatorin Sumaia Daghestani meint, dass außerdem der Zugang zu solchen freiwilligen Angeboten fehlt. Der Knackpunkt ist nach Ansicht der gebürtigen Syrerin die lückenhafte Betreuung in Gemeinschaftsunterkünften. "Wir und andere Organisationen versuchen, selbst hinzugehen und unsere Angebote zu stellen und zu präsentieren, damit die Leute zumindest von uns hören, dass es solche Angebote in Leipzig oder im ländlichen Raum gibt." Aber leider fehle im sozialen Bereich immer Personal, insbesondere in Gemeinschaftsunterkünften. "Die Sozialarbeiter sind überfordert mit der Arbeit und dann können sie den Leuten nicht mit jeder einzelnen Sache helfen", erklärt die 26-Jährige.

Portrait der Ehrenamtskoordinatorin Sumaia Daghestani
Sumaia Daghestani, Projektmitarbeiterin bei "Wir sind Paten", weist auf die unzureichende Betreuung in Geflüchtetenunterkünften hin. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ohne Betreuung ist kein Monitoring möglich

So kann es passieren, dass Personen durchs Raster fallen und sich isoliert fühlen. Sachsen hat keinen festen Personalschlüssel für die soziale Betreuung in Gemeinschaftsunterkünften festgelegt. Im Durchschnitt betreut ein Sozialarbeiter etwa 130 bis 150 Geflüchtete.

Für Michael Kiefer ist klar, dass hier aufgestockt werden muss, um die Betreuung zu intensivieren. Nur so könne man auch mögliche Radikalisierung frühzeitig erkennen. "Die Radikalisierungsprozesse in Geflüchteteneinrichtungen beispielsweise sind deswegen schwer zu erkennen, weil dort tatsächlich kaum noch eine psychosoziale Betreuung der Geflüchteten stattfindet" sagt Kiefer. Es gebe keine Sozialarbeiter, keine Fachkräfte vor Ort, die etwas mitbekommen könnten. "Aus meiner Sicht ist das der falsche Weg, diese Leute sich vollkommen selbst zu überlassen. Wir brauchen eine Betreuung und ein Monitoring in den Geflüchteteneinrichtungen, auch wenn hierzu ein wenig Geld erforderlich ist."

Portrait Michael Kiefer, Professor für Islamische Theologie.tiff
Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer fordert, es brauche eine bessere Betreuung in Geflüchtetenunterkünften. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Radikalisierungsprozesse etwa in Geflüchteteneinrichtungen sind deswegen schwer zu erkennen, weil dort tatsächlich kaum noch eine psychosoziale Betreuung der Geflüchteten stattfindet.

Michael Kiefer, Islamwissenschaftler

Eine engmaschigere Betreuung könnte seiner Meinung nach am Ende dabei helfen, mögliche Gefährder, wie den Täter aus Leipzig, frühzeitig zu erkennen.

Moderatorin im Studio 30 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Exakt | 12. März 2025 | 21:15 Uhr

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