Unentdeckte Radikalisierung Geflüchteten fehlt es an Integrationsangeboten und psychologischer Beratung
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14. März 2025, 05:00 Uhr
Eine Messerattacke am Holocaust-Mahnmal in Berlin, ein Anschlag mit dem Auto auf eine Demonstration in München. Das sind zwei Beispiele für Gewalttaten, die Menschen verübt haben, die eigentlich selbst nach Deutschland geflüchtet sind, um hier sicher zu sein. Wer bekommt mit, wenn Geflüchtete anfangen sich abzusondern und zu radikalisieren? Inwiefern greifen Hilfsangebote und wo sind Lücken im System?
- Vereinen, die psychologische Betreuung für Geflüchtete anbieten, fehlt es oft an einer langfristigen Finanzierung.
- Nur vier Prozent der Geflüchteten, die psychologische Hilfe benötigen, erhalten diese auch.
- Islam-Wissenschaftler Michael Kiefer erklärt: Fehlt es Geflüchteten an einer Perspektive, ist die Gefahr für eine Radikalisierung höher.
Mitte Februar wurde ein Tourist am Holocaust-Mahnmal in Berlin mit einem Messer attackiert. Der mutmaßliche Täter ist ein 19-jähriger Geflüchteter. Sein vermeintliches Motiv: Antisemitismus. Der junge Syrer Wassim Al M. lebte vor der Tat in einer Gemeinschaftsunterkunft im Leipziger Norden.
Jetzt, nach dieser Gewalttat werden Fragen gestellt wie: Werden Anzeichen von Radikalisierung übersehen? Wie werden Geflüchtete betreut und welche Hilfen bekommen sie?
Vereine kämpfen mit hoher Nachfrage und unsicherer Finanzierung
Der Leipziger Mosaik e.V. bietet psychologische Beratung speziell für Geflüchtete an. Dort im Psychosozialen Zentrum werden vor allem Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus betreut, denn diese haben in den ersten 36 Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland nur in absoluten Notfällen Anspruch auf ärztliche Leistungen und Psychotherapie. Musiktherapie kann zum Beispiel helfen, dass Betroffene anfangen sich zu öffnen. Marie Lehmann, Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit im Verein, erklärt, wer psychischen Belastungen ausgesetzt war, für den sei es besonders wichtig, solch einen sicheren Raum zu haben. Behandelt werden unter anderem Angstzustände, Depressionen und Panikattacken.
Bundesweit gibt es nur 52 Orte wie diesen. Die Nachfrage ist dementsprechend hoch. Seit vielen Jahren kann der Mosaik e.V. nicht alle betreuen, die sich an den Verein wenden. "Unsere Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass die Finanzierung immer nur für ein Jahr gesichert ist. Und das heißt, wir müssen uns jedes Jahr von den Klienten im Dezember verabschieden und sagen: Wir wissen nicht, ob wir im Januar wieder für sie da sein können", fasste 2016 die Psychologin beim Mosaik e.V., Corinna Klinger, die Situation im Interview mit MDR INVESTIGATIV zusammen.
Aktuell sei die Lage sogar noch schlechter, so der Verein. Wegen der unklaren Haushaltslage in Sachsen könne im Moment nur eine Notversorgung angeboten werden, obwohl jährlich ca. 300 neue Anfragen zusätzlich zu aktuellen Fällen reinkämen.
Nur ein Bruchteil erhält psychologische Betreuung
In einem Projekt des Vereins, erzählt Lehmann, gehen Sozialarbeiter auch in Gemeinschaftsunterkünfte. "Wir sind auch in den umliegenden Landkreisen regelmäßig vor Ort gewesen in der Vergangenheit, bevor jetzt unsere Notversorgung eingetreten ist." Diese Besuche seien auch wieder geplant. "Aber bei Weitem reichen unsere Kapazitäten nicht aus, um die Bedarfe wirklich in einem zufriedenstellenden Maß abzudecken."
Bisher können nur gut vier Prozent der Geflüchteten in Deutschland, die so eine Beratung brauchen, von den psychosozialen Zentren betreut werden. Marie Lehmann ist es wichtig, klarzustellen, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen einer psychischen Erkrankung und einem Gewaltpotential gibt.
Ausschlaggebend für eine Radikalisierung sind Lehmann zufolge eher die Lebensumstände, etwa auch die Umgebung in einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer Erstaufnahmeeinrichtung. "Denn dort leben Menschen in instabilen Lebensverhältnissen. Sie sind dort isoliert von der restlichen Gesellschaft."
Perspektivlosigkeit macht anfällig für Radikalisierung
Isolation und schlechte Zukunftsperspektiven machen die Betroffenen anfälliger für radikale Inhalte. Professor Michael Kiefer ist von der Universität Osnabrück und befasst sich seit 20 Jahren mit Islamismus und Radikalisierungsprävention und erklärt, dass vor allem Soziale Medien wie TikTok eine große Rolle spielen. "Ein Problem scheint mir tatsächlich auch zu sein, dass diese Leute aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit viel Zeit ohne sinnhaftes Tun verbringen." Gelegenheiten für Beschäftigungen, Gespräche und vieles andere "wären ein Schritt in die richtige Richtung, können aber letztendlich solche Prozesse nicht zwangsläufig verhindern".
Ein Problem scheint mir auch zu sein, dass diese Leute aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit viel Zeit ohne sinnhaftes Tun verbringen.
Eine Perspektive für Menschen mit Fluchterfahrung bietet das Projekt "Wir sind Paten" im Leipziger Westen. Wöchentlich findet dort das Sprachcafé statt, bei dem spielerisch Deutschkenntnisse geübt werden. Mohammad Khaitou kommt aus Syrien, studiert nun in Leipzig Soziale Arbeit und hat hier in der Initiative einen Minijob. Für richtige Integration brauche es seiner Meinung nach aber mehr als das Sprachcafé. "Also zum Beispiel Angebote, wo es um die Gesellschaft geht. Und dass die Menschen zusammenkommen, dafür braucht es noch mehr Angebote in der Stadt."
Fehlende Integrationsprojekte sind das eine Problem. Ehrenamtskoordinatorin Sumaia Daghestani meint, dass außerdem der Zugang zu solchen freiwilligen Angeboten fehlt. Der Knackpunkt ist nach Ansicht der gebürtigen Syrerin die lückenhafte Betreuung in Gemeinschaftsunterkünften. "Wir und andere Organisationen versuchen, selbst hinzugehen und unsere Angebote zu stellen und zu präsentieren, damit die Leute zumindest von uns hören, dass es solche Angebote in Leipzig oder im ländlichen Raum gibt." Aber leider fehle im sozialen Bereich immer Personal, insbesondere in Gemeinschaftsunterkünften. "Die Sozialarbeiter sind überfordert mit der Arbeit und dann können sie den Leuten nicht mit jeder einzelnen Sache helfen", erklärt die 26-Jährige.
Ohne Betreuung ist kein Monitoring möglich
So kann es passieren, dass Personen durchs Raster fallen und sich isoliert fühlen. Sachsen hat keinen festen Personalschlüssel für die soziale Betreuung in Gemeinschaftsunterkünften festgelegt. Im Durchschnitt betreut ein Sozialarbeiter etwa 130 bis 150 Geflüchtete.
Für Michael Kiefer ist klar, dass hier aufgestockt werden muss, um die Betreuung zu intensivieren. Nur so könne man auch mögliche Radikalisierung frühzeitig erkennen. "Die Radikalisierungsprozesse in Geflüchteteneinrichtungen beispielsweise sind deswegen schwer zu erkennen, weil dort tatsächlich kaum noch eine psychosoziale Betreuung der Geflüchteten stattfindet" sagt Kiefer. Es gebe keine Sozialarbeiter, keine Fachkräfte vor Ort, die etwas mitbekommen könnten. "Aus meiner Sicht ist das der falsche Weg, diese Leute sich vollkommen selbst zu überlassen. Wir brauchen eine Betreuung und ein Monitoring in den Geflüchteteneinrichtungen, auch wenn hierzu ein wenig Geld erforderlich ist."
Die Radikalisierungsprozesse etwa in Geflüchteteneinrichtungen sind deswegen schwer zu erkennen, weil dort tatsächlich kaum noch eine psychosoziale Betreuung der Geflüchteten stattfindet.
Eine engmaschigere Betreuung könnte seiner Meinung nach am Ende dabei helfen, mögliche Gefährder, wie den Täter aus Leipzig, frühzeitig zu erkennen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Exakt | 12. März 2025 | 21:15 Uhr