"Memorial"-Begründer Oleg Orlow"In Russland bedeutet jeder öffentliche Protest Verhaftung, Prügel, Geldstrafe"
Oleg Orlow von der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" kam über einen Gefangenenaustausch frei und lebt nun im Exil in Berlin. Er spricht über seine Haftzeit in Russland und das Wesen des Putin-Regimes.
Inhalt des Artikels:
- Erinnerungen ans Gefängnis in Russland
- Der Traum von der Freiheit und das Gefühl die Freunde im Gefängnis zurückzulassen
- "Alexej Nawalny war nicht einfach ein Oppositioneller"
- "Das ist Faschismus": Warum Widerstand in Russland so schwierig ist
- Kein Verständnis für russlandfreundliche Tendenzen in ostdeutscher Politik
Oleg Orlow, Mitbegründer der in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation "Memorial"Oleg Orlow, der Anfang August im Rahmen des größten Gefangenenaustauschs seit dem Kalten Krieg aus russischer Haft freikam, lebt derzeit im Exil in Berlin. 1989 hat er die in Russland inzwischen verbotene Menschenrechtsorganisation Memorial mitgegründet. Im Februar 2024 wurde er wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee in einem Zeitungsartikel verurteilt und bekam zweieinhalb Jahre Haft. Wie er auf die Liste zum Austausch gekommen ist, weiß er nicht. Mit seiner neuen Rolle tut er sich schwer – er sei immer bewusst in Russland geblieben, sagt der 71-Jährige. Wir treffen ihn in Berlin und bei der Eröffnung der "Memorial"-Ausstellung in Weimar, die dort vom 22.8.2024 bis 6.1.2025 zu sehen ist. Drei Wochen ist er in Freiheit – doch den Gefängnisalltag hat er nicht vergessen.
Erinnerungen ans Gefängnis in Russland
Die leeren Fäuste übereinander, schwingt Oleg Orlow beide Arme, als wolle er eine Angel auswerfen. "Kaffee, Tee, Zigaretten, Schokolade", erklärt er – das kann man an einer selbstgemachten Schnur rüber werfen. Aber da ist ja das Gitter vorm Fenster. Da bekommt man die Hand nicht durch. Deshalb wird so eine Art Angelrute aus gerolltem Papier gebastelt." Seine Hände drehen ein imaginäres Stück Zeitung zu einer kompakten Rolle. "Und daran wird mit einer selbstgedrehten Schnur aus allen möglichen Fasern das Päckchen befestigt. Dann schwingt man das und der Nachbar versucht es zu fassen zu kriegen."
So richtig angekommen in der Freiheit ist der 71-Jährige noch nicht. Er sitzt im Berliner Exil-Büro der in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation "Memorial" und gibt ein Interview nach dem anderen. Sein Verstand begreift, dass sich sein Leben schlagartig geändert hat. Aber ein Teil seines Herzens schlägt noch im Gefängnistakt, durchlebt die Unruhe, wenn Schritte auf dem Flur zu hören sind, sich die Schlüssel im Zellenschloss drehen. Kommt aus dem Rhythmus, wenn das Transportsystem aus selbstgebastelten Schnüren und Schleudern entdeckt zu werden droht, dass die Häftlinge nachts nutzen, um einander kleine Päckchen von Zellenfenster zu Zellenfenster zuzuwerfen.
"Morgens muss das ganze System wieder verschwunden sein, das geht nur nachts. Man kann auch mit einem Katapult was rüberschießen. Aus Gummis gebastelt, die in Wäschestücken sind. Und so schießt man das von einem Fenster zum anderen. Das ist eine nützliche Fähigkeit im Gefängnis."
Sein Lachen bei der Erinnerung an das, was ein halbes Jahr lang zu seinem Alltag gehörte, erstirbt jäh. Immer wieder trifft ihn wie ein Schlag der Gedanke an die vielen Mitstreiter, die nicht auf der Austauschliste standen. Für die das, wovon er berichtet, Alltag bleibt. Das und Schlimmeres.
Der Traum von der Freiheit und das Gefühl die Freunde im Gefängnis zurückzulassen
Im Februar war der Mitbegründer der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial"zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und in Sysran nördlich von Kasachstan inhaftiert worden. Weil er von Beginn an gegen den russischen Überfall auf die Ukraine protestiert hatte, unter anderem mit Plakaten auf dem Roten Platz in Moskau. 800 politische Häftlinge vermutet Oleg Orlow weiterhin in russischen Gefängnissen und Lagern.
Ständig habe er beim Gedanken an das Leben in Freiheit ein großes gebratenes Stück Fleisch vor Augen gehabt, sagt er. Und ein Glas Rotwein. Gleich am zweiten Tag nach seiner Ankunft in Deutschland hätten ihn seine "Memorial"-Kollegen ins Restaurant mitgenommen. "Und als ich dort dieses Stück Grillfleisch gegessen habe, musste ich daran denken: Ich bekomme gerade einen Traum erfüllt – aber meine Freunde, mit denen ich im Gefängnis saß, und so viele, die in Lagern sitzen, die sind nicht mit hier dabei. Die müssen weiter den Gefängnisfraß schlucken."
Geduldig und als sei es das erste Mal antwortet der magere, drahtige Mann seit Tagen von früh bis spät auf die immer gleichen Fragen von Journalisten, getrieben von seiner Mission: Auch die anderen politischen Gefangenen sollen freikommen, und müsste er dafür auch nicht nur tage- sondern auch nächtelang Interviews und Antworten geben.
"Alexej Nawalny war nicht einfach ein Oppositioneller, er war wirklich ein Anführer"
Zum Beispiel auf die Frage, wie er vom Tod des wohl prominentesten russischen Oppositionellen, Alexej Nawalny, erfahren habe. "Ich bin am 16. Februar mit gepackter Tasche für mein Schlusswort vor Gericht erschienen, weil ich da das Urteil erwartet habe. Aber das wurde auf den folgenden Tag verschoben. So hatte ich noch einen Tag in Freiheit, verließ das Gerichtsgebäude in kämpferischer Stimmung. Und da erfuhr ich diese schreckliche Nachricht. Das war wie ein Hieb auf den Kopf mit dem Schlagstock. Denn Alexej Nawalny war nicht einfach ein Oppositioneller, er war wirklich ein Anführer. Eine Hoffnung für die Zukunft Russlands."
Im Namen dieser Zukunft ist Oleg Orlow, gerade drei Wochen nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, nun in Deutschland unterwegs
Bauhaus-Ausstellung zeigt die Geschichte von Menschenrechtsorganisation "Memorial"
Im Bauhaus Weimar ist eine Ausstellung der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" gewidmet, die 2022 den Friedensnobelpreis erhielt und seit zwei Jahren nur noch aus dem Exil arbeiten kann. Orlow als ihr Mitbegründer ist Ehrengast zur Eröffnung. Die kleine Schau wirft Schlaglichter auf die Geschichte von "Memorial", beginnend 1989, als es darum ging, die historische Wahrheit über politische Unterdrückung in der Sowjetzeit aufzudecken, die Namen der Opfer zu benennen, Denkmäler zu schaffen, bis zum Verbot der Organisation im Dezember 2021.
Zu sehen sind zum Beispiel eine Weste mit handschriftlich verfassten Versen eines Lagerhäftlings auf dem Innenfutter, Werkzeuge aus Arbeitslagern aber auch Fotos und Videos über die Verfolgung von "Memorial"-Mitarbeitern. Für Oleg Orlow eine Zeitreise, die ihn sichtlich schmerzt.
"Zu sagen, in Russland gebe es keinen Widerstand, heißt, das Wesen des Putin-Regimes nicht zu verstehen"
Vom Tschetschenienkrieg über Morde an Oppositionellen bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine – Orlow sieht sein Land tief in der Sackgasse und ärgert sich über die Frage, warum denn so wenige seiner Landsleute sich gegen Putin wehren.
Zu sagen, in Russland gebe es keinen Widerstand, heißt, das Wesen des Putin-Regimes einfach nicht zu verstehen. Ich kann nur immer wiederholen: Das ist Faschismus. Die Leute kommen ins Gefängnis, wenn sie nur den Mund aufmachen.
Oleg Orlow, Menschenrechtsorganisation "Memorial"
"In Russland bedeutet jeder öffentliche Protest mindestens Verhaftung, Prügel, eine sehr hohe Geldstrafe. Und wer das ein zweites Mal macht, bekommt ein Strafverfahren. Wer sich wehrt, wenn er von Milizionären weggeschleppt wird, sie nicht einmal schlägt, nur versucht, sich zu befreien, wer auch nur einen leeren Pappbecher auf einen Milizionär wirft, bekommt mehrere Jahre Freiheitsentzug.
Zu sagen, in Russland gebe es keinen Widerstand, heißt, das Wesen des Putin-Regimes einfach nicht zu verstehen. Ich kann nur immer wiederholen: Das ist Faschismus. Die Leute kommen ins Gefängnis, wenn sie nur den Mund aufmachen. Nur, wer von Euch in Europa das weiß und auf sich selbst anwendet und sagt, 'Ja, ich wäre bereit, mich zu opfern', nur derjenige Europäer hätte das Recht zu sagen, dass es in Russland wenig Widerstand gibt. In Deutschland gab es ja auch Widerstand gegen Hitler. Der hat aber auch nicht ausgereicht, um ihn zu stürzen. Also, wie können Sie in Europa das von den Russen erwarten?"
Kein Verständnis für russlandfreundliche Tendenzen in ostdeutscher Politik
Oleg Orlow will sich weiter Zeit nehmen für viele Gespräche. Um den Deutschen zu erklären, was in seiner Heimat vor sich geht. Und um sich selbst erklären zu können, was gerade in Deutschland passiert. Besonders im Osten. Denn noch sei ihm unbegreiflich, wie man die Sanktionen gegen Russland infrage stellen, wie man glauben kann, Putin würde sich mit der Ukraine begnügen, wenn der Westen weniger oder keine Waffen mehr liefern und das angegriffene Land seinem Schicksal überlassen würde.
Und ausgerechnet jetzt finden sich wieder deutsche Politiker, wie eine Sahra Wagenknecht, die sagen: 'Soll Putin ein bisschen Territorium erobern, das ist für uns nicht gefährlich.' – Das ist vollkommen unverantwortlich! [...] Aus eigensüchtigen Beweggründen. Um die eigene politische Karriere zu befördern.
Oleg Orlow, Menschenrechtsorganisation "Memorial"
"Solange es diese Aggression gibt, muss es auch Sanktionen geben. Selbst wenn meine Landsleute darunter leiden – ich bin Russe, ich bin russischer Patriot – wenn also die russische Bevölkerung das spürt, weil einige ihre Arbeit verlieren, andere weniger Lohn bekommen, die Preise überall in Russland steigen – dann ist dennoch klar, wir alle, die wir russische Bürger sind, tragen einen Teil der politischen und moralischen Schuld für das, was das Putin-Regime in unserem Namen, im Namen Russlands anrichtet.
Und ausgerechnet jetzt finden sich wieder deutsche Politiker, wie eine Sahra Wagenknecht, die sagen: 'Soll Putin ein bisschen Territorium erobern, das ist für uns nicht gefährlich.' – Das ist vollkommen unverantwortlich! Sehenden Auges zuzulassen, dass so ein grausames Regime, das nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa gefährdet, sich in Russland weiter festigt, wenn man sich mit ihm auf Kosten der Ukraine gutstellt! Das ist Biertischpolitik und spielt einer Entwicklung zur Diktatur in die Hände. Aus eigensüchtigen Beweggründen. Um die eigene politische Karriere zu befördern."
Der größte Wunsch: Ein friedliches älteres Paar in der Datsche im Grünen – in einem friedlichen Land
Während Oleg Orlow zwischen den Ausstellungsexponaten im Weimarer Bauhaus Journalistenfragen beantwortet, heften sich seine Augen immer wieder auf eine etwas unruhig wirkende Frau, deren frisch rot lackierte Fingernägel und sorgfältig frisierte dunkle Haare darauf hindeuten, dass sie sich auf etwas Besonderes vorbereitet hat.
Ein halbes Jahr hat Tatjana ihren Mann nicht gesehen, ihm nur Briefe ins Gefängnis schreiben können. Nun durfte sie aus Russland ausreisen, um ihn in Deutschland, in Freiheit, wiederzusehen. Oleg Orlow verfolgt sie mit besorgten Blicken, als würde sie ihm erneut verloren gehen, wenn er sie einen Moment aus den Augen lässt. Sie verkörpert für ihn seinen größten Wunsch: Mit ihr zusammen in Russland weiterleben zu können, die Datsche im Grünen zu pflegen und als ein friedliches älteres Paar in einem freien und friedlichen Land leben zu können.
"Aber wenn ich jetzt dorthin zurückkehren würde, würde ich sofort wieder verhaftet werden", sagt Oleg Orlow mit einer Mischung aus Tapferkeit und Bitterkeit in der Stimme. "Bis es soweit ist, steht mir und meiner Organisation 'Memorial' noch eine große Menge Arbeit bevor."
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 23. August 2024 | 19:30 Uhr
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