SchuleUnverzichtbar und überlastet: Seiteneinsteiger im Lehramt
Aufgrund des Lehrermangels ist es seit einigen Jahren möglich, sich über einen Seiteneinstieg als Lehrer zu bewerben, ohne ein Lehramt studiert zu haben. Seiteneinsteiger bringen die fachlichen Kenntnisse mit, für die Pädagogik sollen sie qualifiziert werden. Wir haben bei den Bildungsministerien, den Gewerkschaften und den Elternvertretern nachgefragt, ob die Fortbildungen ausreichen, welche Erfahrungen es mit Seiteneinsteigern gibt und was noch getan werden müsste.
In einem Punkt sind sich die Bildungsministerien, die Gewerkschafter und die Elternvertreter Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens einig: Seiteneinsteiger im Lehramt werden gebraucht, und zwar dringend. Denn den Lehrermangel allein mit angehenden Lehrern auszugleichen, reicht schon seit Jahren nicht mehr.
Aktuell verlassen zwischen 800 und 1.000 Lehrkräfte pro Jahr altersbedingt die Schulen.
Felix Knothe | Sprecher Thüringer Bildungsministerium
So sagte ein Sprecher des Thüringer Bildungsministeriums auf Anfrage des MDR: "Derzeit müssen in Thüringen praktisch zwei Lehrergenerationen ersetzt werden: diejenige, die in den 1990er- und 2000er-Jahren nicht eingestellt worden ist - viele ausgebildete Lehrkräfte haben damals Thüringen verlassen - und die, die derzeit in großen Jahrgängen in den Ruhestand geht. Aktuell verlassen zwischen 800 und 1.000 Lehrkräfte pro Jahr altersbedingt die Schulen." Ein Trend, der in den folgenden Jahren anhalten werde und auf eine "schwierige demografische Situation" treffe.
Wir werben um jede einzelne Lehrerin und jeden einzelnen Lehrer für unsere Schulen.
Helmut Holter (Linke) | Thüringer Bildungsminister
Die Situation in Thüringen steht beispielhaft für ganz Mitteldeutschland. Denn der Lehrermangel, das ist nicht neu, ist akut. Deshalb erklärte Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke) erst Anfang Dezember: "Wir werben um jede einzelne Lehrerin und jeden einzelnen Lehrer für unsere Schulen." Auch um jene, die erstmal gar keine Lehrer sind. Denn, so Claudia Koch, Landeselternsprecherin in Thüringen: "Wir haben keine andere Chance. Wir brauchen Seiteneinsteiger."
Das sieht Matthias Rose, Vorsitzender der Landeselternvertretung in Sachsen-Anhalt, genauso: "Das ist im Moment ohne Frage alternativlos." Und zwar schon seit Jahren.
Deshalb ist es beispielsweise in Sachsen bereits seit 2015/2016 möglich, als Seiteneinsteiger in den Landesschuldienst übernommen zu werden, in Thüringen seit 2017.
Der Anteil der Seiteneinsteiger im Lehramt ist in den Ländern freilich unterschiedlich groß. In Sachsen-Anhalt ist er bei den Neueinstellungen besonders hoch: Ein Drittel der neuen Lehrer sind hier Seiteneinsteiger. In Thüringen ist der Anteil von rund fünf Prozent im Schuljahr 2017/18 auf 23,5 Prozent im Schuljahr 2021/22 gestiegen. In Sachsen zeigt sich der umgekehrte Trend: "Die Quote der Seiteneinsteiger sinkt", sagte eine Sprecherin des dortigen Bildungsministeriums dem MDR. Aktuell liege der Anteil der Seiteneinsteiger bei rund 10,5 Prozent. "Vor Jahren betrug dieser Wert noch über 30 Prozent.”
An welchen Schulen gibt es die meisten Seiteneinsteiger?
In Thüringen bilden laut dem Bildungsministerium die Regel- und Gemeinschaftsschulen mit 116 sowie die Berufsbildenden Schulen mit 86 Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern im Schuljahr 2021/22 die Schwerpunkte. In den übrigen Schularten ist die Anzahl der neu eingestellten Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern geringer.
In Sachsen gibt es die meisten Seiteneinsteiger an Förderschulen, gefolgt von den Oberschulen.
Über Sachsen-Anhalt liegen uns keine Zahlen vor.
Seiteneinsteiger stellen also einen nicht unerheblichen Teil der Lehrkräfte. Doch nicht jeder kann Lehrer werden. Voraussetzung ist bisher ein abgeschlossenes Hochschulstudium und das Durchlaufen von Qualifizierungskursen. Dabei sind die angebotenen Qualifizierungsmaßnahmen in den Ländern recht unterschiedlich.
Während Seiteneinsteigende in Sachsen eine dreimonatige Einstiegsfortbildung, "in der sie sowohl fachlich als auch praktisch von erfahrenen Lehrerinnen und Lehrern geschult werden", so das Bildungsministerium, bekommen, durchlaufen Seiteneinsteigende in Sachsen-Anhalt einen vierwöchigen pädagogischen Kompaktkurs, in Thüringen einen dreiwöchigen Intensivkurs. Daran schließt sich in allen Ländern eine berufsbegleitende Nachqualifizierung unterschiedlicher Länge an. Berufsbegleitend heißt auch, dass die Neulehrer sofort mit der Arbeit beginnen.
Thüringens Landeselternsprecherin Claudia Koch ist da pragmatisch: "Vor zehn Jahren hätte ich gesagt: Wir müssen aufpassen, dass die Qualität nicht verwässert. Aber es gibt genügend qualifizierte Menschen in der Bevölkerung. Der Lehrerberuf ist erlernbar." Die Seiteneinsteiger, die sie kennt, hätten vorher beispielsweise an einer Universität gearbeitet. Aber auch Handwerksmeister seien schon dabeigewesen.
Pädagogische Qualifizierung ist wichtig
"Seiteneinsteiger müssen qualifiziert und vorbereitet werden", sagt sie. "Nicht fachlich, sondern man muss im Wesentlichen mit der Klasse klarkommen", also pädagogisch und didaktisch geschult sein. Die ersten Seiteneinsteiger seien ohne Weiterbildung in den Berufsalltag "hineingeworfen" worden, sagt Koch. "Das ist inzwischen besser gelöst." Doch klar, mehr Qualifizierung gehe immer. "Auf dem Papier sieht es in Thüringen gut aus. Aber an manchen Stellen gibt es bürokratische Hürden."
Wo es zu wenige Lehrer gibt, um überhaupt Unterricht sicherzustellen, bleibt kaum Zeit, die Seiteneinsteiger zu betreuen und zu begleiten.
André Jaroslawski | stellvertretender Vorsitzender des Landeselternrates Sachsen
André Jaroslawski, stellvertretender Vorsitzender des Landeselternrates Sachsen, bemängelt die Qualifizierungsmaßnahmen in Sachsen deutlich: "Psychosoziale und didaktische Kompetenzen werden gering oder gar nicht vermittelt", sagte er dem MDR. Problematisch sei die Unterstützung der Seiteneinsteiger an den Schulen. "Wo es zu wenige Lehrer gibt, um überhaupt Unterricht sicherzustellen, bleibt kaum Zeit, die Seiteneinsteiger zu betreuen und zu begleiten."
Integration in den Schulalltag
Doch genau das ist Teil der Maßnahmen in allen drei Ländern: Das Kollegium in der Schule soll Seiteneinsteiger bei der Einarbeitung und Integration in den Schulalltag unterstützen.
Dafür werde kaum Zeit eingeplant, es fehle an zusätzlichen Stunden, so die Gewerkschaften für Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. So sagte eine Sprecherin der Gewerkschaft in Sachsen-Anhalt dem MDR: "Die derzeitigen zwei Anrechnungsstunden für Mentoren fallen oft unter den Tisch, weil Lehrkräftemangel besteht."
Der Unterstützungsaufwand ist zum Teil sehr groß für die fachbegleitenden Lehrer.
Michael Kummer | Sprecher GEW Thüringen
Und ein Sprecher der GEW Thüringen erklärt, dass eine "vernünftige Einarbeitungszeit" fehle. "Der Unterstützungsaufwand ist zum Teil sehr groß für die fachbegleitenden Lehrer. Hier wären verbindliche und mehr Anrechnungsstunden besonders notwendig."
Doch manche Schulen hätten einen so hohen Bedarf an neuen Lehrkräften, dass die Seiteneinsteiger regelrecht "verheizt" würden. Viele Seiteneinsteiger arbeiteten am Limit. "Das kann nicht funktionieren", so der Sprecher. "Einige geben ganz auf." Matthias Rose vom Landeselternrat Sachsen-Anhalt fordert deshalb, dass für Seiteneinsteiger in den ersten beiden Jahren die Unterrichtsstunden reduziert werden müssten.
Auch die GEW in Sachsen-Anhalt sieht das so. "Leider wird den Kollegen wenig Zeit gegeben, sich auf den neuen Job einzurichten. Sie werden sofort und ohne nennenswerte Vorbereitung mit 25 Unterrichtsstunden konfrontiert. Wir als GEW fordern, dass Seiteneinsteigende für das erste halbe Jahr ein Drittel weniger unterrichten sollten."
Thüringer Bildungsministerium: Seiteneinsteiger unverzichtbar
Die Länder betonen vorwiegend den Erfolg, den die Einstellung von Seiteneinsteigern bringt. So teilte das Thüringer Bildungsministerium dem MDR mit: "Ganz generell lässt sich sagen, dass Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger zu einer wertvollen Säule bei der Lehrerschaft und der Unterrichtsabsicherung geworden sind und an vielen Thüringer Schulen ein unverzichtbarer Teil des Kollegiums sind. Auf Grund ihrer unterschiedlichen Bildungsbiografien bringen sie oft sehr wertvolle neue Impulse in die Schullandschaft ein."
Vielerorts werden Seiteneinsteiger als große Unterstützung wahrgenommen.
Matthes Blank | GEW Sachsen
Die Erfahrungen, die in den Schulen mit den Seiteneinsteigern gemacht werden, sind zweifellos oft positiv, wie der Sprecher der GEW Sachsen sagt. "Vielerorts werden Seiteneinsteiger als große Unterstützung wahrgenommen." Oft gelinge der Einstieg in den Unterricht gut. Die Hochachtung für die Bewältigung der Doppelbelastung Schule und Qualifikation sei groß.
Eltern: überraschend gute Erfahrungen mit Seiteneinsteigern
Auch André Jaroslawski vom Landeselternrat Sachsen berichtet von positivem Feedback. "Es gab für die Eltern überraschend gute Erfahrungen mit Seiteneinsteigern. Eltern empfanden es auch als Glücksfall, dass ein Lehrer für die Klasse da ist." Viele nicht grundständig ausgebildete Lehrkräfte bemühten sich darum, einen guten Unterricht zu machen.
Sorgen bei der Lehrerschaft
Bei der GEW Sachsen kennt man auch andere Erfahrungen. "Wenn die Seiteneinsteiger-Quote zu hoch wird, regt sich allerdings auch Widerstand und natürlich gibt es Menschen, die sich die Arbeit als Lehrkraft einfacher oder anders vorgestellt hatten." Zudem hätten "viele grundständig ausgebildete Kolleginnen und Kollegen angesichts der Dimension auch begründete Sorgen vor einer Deprofessionalisierung des Lehrerberufes", so der Sprecher.
"Natürlich", sagt die Thüringer Landeselternsprecherin Claudia Koch dazu, "Probleme gibt es schon immer, das ist nie einfach. Ich plädiere dafür, den Seiteneinsteigern Verständnis und Toleranz entgegenzubringen und ihnen Zeit zu geben."
GEW: Fülle von Maßnahmen gegen den Lehrermangel erforderlich
Doch auf Dauer wird auch die Einstellung von Seiteneinsteigern nicht ausreichen, um langfristig wieder mehr Menschen für den Lehrerberuf zu gewinnen. Dafür gebe es eine Fülle von Maßnahmen, die wesentlich seien, sagt der GEW-Sprecher für Sachsen. Beispielsweise sollten Lehrer entlastet werden, damit sie länger im Beruf bleiben. Ergänzend müsse sich die Lehrerausbildung ändern, Schulen bräuchten Verwaltungskräfte, Assistenzen und IT-Fachleute. Auch die GEW Thüringen stimmt zu: "Dringlich ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, um den Lehrerberuf attraktiv zu machen, es reicht nicht allein ein guter Verdienst."
Wir werben nicht offensiv für Seiteneinsteiger. Das muss sich ändern.
Matthias Rose | Vorsitzender des Landeselternrates Sachsen-Anhalt
Darüber hinaus müsse vor allem mehr für den Lehrerberuf geworben werden. Auch um Seiteneinsteiger, sagt Matthias Rose, der Vorsitzende des Landeselternrates Sachsen-Anhalt: "Wir werben nicht offensiv für Seiteneinsteiger. Das muss sich ändern."
Image des Lehrerberufes aufwerten
Und zu guter Letzt und generell müsse überhaupt das Image des Lehrerberufes auf lange Sicht aufgewertet werden, sagt auch Claudia Koch aus Thüringen. "Es muss schon in den Schulen für den Lehrerberuf geworben werden."
Thüringens Bildungsminister Helmut Holter jedenfalls versucht genau das mit den vier neuesten Motiven Plakataktaktion "Erste Reihe - #Lehrerinthueringen". Die Aktion, die es seit 2019 gibt, sei ein wesentlicher Baustein der Thüringer Lehrergewinnungskampagne, heißt es vom Ministerium. Ob sie etwas bringt? Wer weiß. Wünschenswert ist es jedenfalls.
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Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 04. Dezember 2022 | 18:00 Uhr