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MDRfragt | EinordnungRaj Kollmorgen: "Niemand anderes als Russlands Führung unter Putin hat die Kriegsmaschine in Bewegung gesetzt"

24. Februar 2023, 05:00 Uhr

Ein Jahr Krieg in der Ukraine hat das Sicherheitsempfinden vieler MDRfragt-Teilnehmenden nachhaltig ins Wanken gebracht. Mehr als 30.000 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben dazu ihre Meinungen und Gedanken in einer Befragung mitgeteilt. Wie sind diese einzuschätzen, auch gerade vor dem Hintergrund der ostdeutschen Wendeerfahrungen? Dazu haben wir den Soziologen Professor Raj Kollmorgen, um eine Einschätzung gebeten.

von MDRfragt-Redaktionsteam

1. Sicherheitsgefühl schwer beeinträchtigt

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Herr Kollmorgen: 78 Prozent der Teilnehmer bei MDRfragt gaben an, dass der Krieg ihr Sicherheitsgefühl nachhaltig beeinträchtigt hat. Woher kommt das das? Was bedeutet es konkret, wenn Menschen das Gefühl der Sicherheit verlieren?

Raj Kollmorgen: "Nach dem Scheitern des Staatssozialismus 1989/90 entwickelten wir in Europa und besonders ausgeprägt in Deutschland ein Sicherheitsgefühl, das weder die Annexion europäischer Staaten durch fremde Mächte kannte, noch die Vorstellung zuließ, dass eine neue militärische "Blockkonfrontation" oder gar Kriegsgefahr zwischen Großmächten entstehen könnte.

Vielmehr sah sich die Bundesrepublik von Freunden, mindestens aber Partnern umgeben. Für viele Ostdeutsche galt das mit Blick auf Russlands Rolle und Politik in besonderer Weise. Die Erschütterung durch den seit Februar 2022 geführten offenen Annexionskrieg ist umso gravierender.

Bisher bestehende Sicherheitsgefühle beeinträchtigt zu sehen oder gar zu verlieren, kann vieles bedeuten und hängt immer von den konkreten Umständen ab.

Auf internationaler oder globaler Ebene sind Sicherheitsgefühle hochgradig vermittelt und bleiben vielfach abstrakt – anders als ein (Un-)Sicherheitsgefühl im Alltagsleben etwa gegenüber fremden Menschen nachts auf der Straße. Daran ändern auch beklemmende Bilder der Kriegsberichterstattung nur wenig.

Allerdings ist es wahrscheinlich, dass mit dem erschütterten Sicherheitsgefühl aufgrund des Krieges sich die Wahrnehmung auf Russland und generell globale Bedrohungsszenarien erheblich verändern wird.

Viele Menschen auch in Ostdeutschland werden eher akzeptieren, dass die Ausgaben des Staates für die militärische Verteidigung, sichere Energieressourcen und verlässliche Handelspartner steigen und dauerhaft deutlich höher sein werden als bisher."

Zur PersonProfessor Raj Kollmorgen ist Soziologe und Professor für Management des sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz. Er forscht unter anderem zu den postsozialistischen Transformationen in Ostmittel- und Osteuropa, sowie zu Ostdeutschland und der deutschen Einheit. Raj Kollmorgen ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von MDRfragt.

2.   Die Sorgen hinsichtlich des weiteren Kriegsverlaufs

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Mehr als jeder Zweite (55 Prozent) befürchtet, dass der 3. Weltkrieg ausbrechen könnte. Wie ordnen Sie dieses Ergebnis ein? Zugleich nahm die Sorge vor dem Angriff auf weitere Länder durch Putin und dem Einsatz von Atomwaffen seit März 2022 kontinuierlich ab. Warum ist das so?

Raj Kollmorgen: "Hier scheinen mir bei den Befragten zwei Denkbewegungen aufeinanderzuprallen. Einerseits die für mehr als jede/n Zweite/n anhaltende und mit den sich ausweitenden Waffenlieferungen sicher nicht abnehmende Gefahr einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO, andererseits die Wahrnehmung, dass die Aggression von Anfang an nicht ihre Ziele erreichte und sich die russische Armee schwächer zeigte, als von fast allen angenommen. Dennoch hat Russland bis heute nicht taktische Atomwaffen in Stellung gebracht. Der Verlauf des Krieges hat also die frühen Befürchtungen nicht bestätigt – das diagnostizieren die Befragten insofern ganz realistisch."

3.   Die Frage nach der Hauptschuld des Krieges

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Wie lässt es sich erklären, dass 32 Prozent der Befragungsteilnehmer die USA als Hauptverantwortlichen für den Krieg sehen?

Raj Kollmorgen: "Meine Einschätzung ist, dass es einen erheblichen Anteil ostdeutscher Befragter gibt, die in der Frage nach Schuld oder Hauptverantwortung dazu neigen, längerfristige Entwicklungsprozesse von Machtverhältnissen, Missachtungen und Strategien in den Beziehungen zwischen dem Westen (vor allem den USA) und Russland nicht oder nur wenig von den konkreten Zielen und Ursachen des Überfalls Russlands auf die Ukraine zu unterscheiden.

Es ist nicht nur demokratisch zulässig, sondern notwendig, sich über problematische oder unkluge Politiken der USA und der NATO gegenüber Russland seit 1991 zu streiten, ggf. auch harte Kritik zu äußern. Dass aber die Hauptverantwortung in einem brutalen Aggressionskrieg beim Aggressor – also Russland – liegt, erscheint mir ein zwingendes Urteil. Niemand anderes als Russlands Führung unter Putin hat die Kriegsmaschine in Bewegung gesetzt. Keinerlei unkluge oder "falsche" Politik in den Jahren zuvor kann diese Wahrheit relativieren. Hier würde ich die Befragten, die als Hauptverantwortliche die USA oder andere Akteure (wie die EU oder selbst die Ukraine) nannten, nur auffordern, ihre Positionierung noch einmal selbstkritisch zu reflektieren."

5.    Der spezielle Ost-Blick

6 von 10 denken der MDRfragt-Mitglieder der Umfrage denken, dass Ostdeutsche die politische Lage in Russland besser beurteilen können als Westdeutsche und bei mehr als zwei Dritteln weicht die eigene Meinung nach eigenen Angaben von der westdeutschen Mehrheitsmeinung ab. Wie würden Sie diese Ergebnisse einordnen? Warum denken doch so viele, dass Ostdeutsche den vermeintlich qualifizierteren Blick auf die politische Lage in Russland haben? Warum könnte das ein Trugschluss sein?

Raj Kollmorgen: "Obwohl es sicher richtig ist, dass es aufgrund der offiziellen "Freundschaftbeziehungen" zwischen der DDR und der Sowjetunion wie auch der vielfältigen Thematisierungen in der Schule, in der Literatur, in Kino- und Fernsehfilmen oder aufgrund eigener Reisen gerade in der Generation der über 50-jährigen Ostdeutschen einen anderern und insgesamt größeren Wissensbestand über die Sowjetunion und Russland gibt als im Westen der Republik, ist doch relativierend auf Zweierlei hinzuweisen:

Erstens hat vor 1989 eine überwältigende Mehrheit der DDR-Bürger die "deutsch-sowjetische Freundschaft" als Indoktrination rundheraus abgelehnt, als politische Pflichtübung betrachtet und sich keineswegs tiefer mit der russischen – oder gar ukrainischen, estnischen oder kasachischen – Geschichte, Kultur und Gesellschaft befasst. Das war eine deutliche, fast ausnahmslos intellektuelle Minderheit.

Zweitens wurden in der "Freundschaftspolitik" überwiegend Bilder, Geschichten und Urteile vermittelt, die mit historischen Wahrheiten und gesellschaftlichen Realitäten nur wenig zu tun hatten. Alle DDR-Bürger, die Gelegenheit hatten, für länger als drei Tage die Sowjetunion mit offenen Augen zu bereisen, können etwa von den schockartigen Erfahrungen des tatsächlichen Lebenstandards im Land des baldigen Kommunismus berichten.

Angesichts dessen sind die 60 Prozent der Befragten, die eine bessere Urteilsfähigkeit der Ostdeutschen erkennen, nicht nur Ausdruck eines durchaus (n)ostalgischen Rückblicks. Sie bedeuten – so meine Einschätzung – vor allem den Versuch, der für viele nach wie vor existierenden westdeutschen Deutungshoheit in allen politischen Angelegenheiten (mindestens) auf diesem Feld eine ostdeutsche Überlegenheit entgegenzusetzen."

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR extra | 24. Februar 2023 | 19:50 Uhr