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PandemieDunkelziffer: Abwasser-Monitoring ermöglicht genaues Bild der Corona-Lage

08. Juli 2022, 22:07 Uhr

Experten sind sich einig: Die Corona-Inzidenz ist wesentlich höher, als es die offiziellen Zahlen besagen. Abwasser-Monitoring könnte ein genaueres Bild erlauben – auch in Mitteldeutschland laufen Modellprojekte. Das Monitoring könnte helfen, Kosten bei individuellen Tests einzusparen.

Die tatsächlichen Corona-Infektionszahlen in Deutschland sind weit höher als die offizielle 7-Tage-Inzidenz. Das zeigen Abwasseranalysen in verschiedenen Regionen und Städten in Deutschland. Die Stadt Köln etwa hatte Anfang Juli laut RKI eine Inzidenz von 800. Eine Hochrechnung von Coronavirus-Rückständen im Abwasser zeigte jedoch einen fast doppelt so hohen Wert von 1.500.

Eine hohe Dunkelziffer bei Coronainfektionen in der Bevölkerung belegen auch Abwasseranalysen in anderen deutschen Kommunen – sowie in den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Italien oder Kanada. Der deutsche Verband der Amtsärzte verlangt daher jetzt flächendeckende Abwassertests, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist offen dafür.

Bundesweites Pilotprojekt läuft

In Deutschland wird seit Februar 2022 in 20 Städten und Kommunen das Abwasser auf Sars-Cov2-Rückstände untersucht. An diesem einjährigen Pilotprojekt sind Dresden, Jena und in Sachsen-Anhalt der Abwasserzweckverband Eisleben beteiligt.

Ähnliche Projekte gibt es bereits seit 2020 am Leipziger Umweltforschungszentrum. Auch im Berchtesgadener Land in Bayern und an der Bauhaus-Universität Weimar wird dazu geforscht.

Jena: Noch keine konkreten Zahlen

Auch die Jenaer Projektleiterin Sabine Trommer geht von einer deutlich höheren tatsächlichen Infektionsrate in der Bevölkerung aus, als einzeln per Schnell- oder PCR-Test nachgewiesen ist. Das sei auch logisch, da es viele symptomfreie Sars-CoV2-Infektionen gebe und viele Infizierte mit leichten Symptomen gar nicht zum Arzt gingen und keinen PCR-Test machten, also nicht erfasst würden. Die aktuell dominierenden Sars-CoV2-Subtypen mit oft mildem Krankheitsverlauf verstärkten diesen Trend.

Trommer lobt im Gespräch mit MDR AKTUELL das Abwasser-Monitoring als sinnvolle Ergänzung der Einzelfallerfassung durch Behörden und RKI. Auch sie plädiert für eine Ausweitung, um ein genaueres Bild vom Infektionsgeschehen zu bekommen. Da im Abwasser Virenreste zeitnah nach der Einbringung erfasst würden, funktioniere das Monitoring auch als Frühwarnsystem mit einem Vorlauf von fünf bis zehn Tagen.

Allerdings möchte die Projektleiterin in Jena noch keine Zahlen nennen, um wie viel höher die tatsächliche Coronavirus-Belastung aufgrund der Abwasserdaten über den offiziellen RKI-Zahlen liege. Die Datenerfassung, -auswertung und -interpretation dauere noch an.

Warum dauerte es so lange mit dem systematischen Monitoring?

Eine wissenschaftlich belastbare Datenerhebung zur Corona-Pandemie ist methodisch aufwendig, braucht Forschungskapazitäten und kostet auch Geld. Es gibt zu Coronavirus-Rückständen im Abwasser bereits einzelne kommunale Initiativen in Deutschland in Kooperation mit Abwasserverbänden, Universitäten, Instituten und Analysefirmen, die Projekte werden von der EU, dem Bund oder Bundesländern gefördert. Entsprechend hoch ist der Abstimmungsbedarf, es gibt langwierige Ausschreibungsverfahren und bürokratische Hürden.

Die Jenaer Projektleiterin Trommer erläutert MDR AKTUELL, das Pilotprojekt (ESI-CorA) zum Abwasser-Monitoring in 20 deutschen Kommunen werde von der EU gefördert. Ein Bund-Länder-Verbände-Gremium lenke das Projekt. Daran beteiligt seien vier Bundesministerien, jeweils Ländervertreter der Bereiche Gesundheit und Abwasser, der Verband kommunaler Unternehmen sowie der Deutsche Städtetag. Die zentrale Koordinierung liegt beim Karlsruher Institut für Technologie.

Doch die Umsetzung in der Fläche stockt, dabei geht es auch um Finanzierungsfragen. Abwassergebühren sind zweckgebunden, die Probenahme und Analyse darf nicht über die Abwassergebühren finanziert werden. Die Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA) rief daher den Bund auf, vor dem Herbst/Winter die Finanzierung zu klären.

Mehr als zwei Jahre Forschung zum Abwasser-Monitoring am Leipziger UFZ

Am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig (UFZ) werden bereits seit 2020 Krankheitserreger im Abwasser analysiert. Der Freistaat fördert das Forschungsprojekt bis Ende 2022. Der Virologe René Kallies schildert MDR AKTUELL, wie nach Berichten aus den Niederlanden zum Nachweis der Spuren von Coronaviren im Klärschlamm dazu die Forschung am UFZ aufgebaut worden sei – mit der TU Dresden als Partner. Anfangs habe man erst die Politik vom Nutzen des Abwasser-Monitorings überzeugen müssen. In der Hochphase der Pandemie seien verständlicherweise erst mal andere Prioritäten gesetzt worden. Es musste eine Methodik entwickelt und validiert, die technischen Abläufe organisiert werden.

Dann habe es im Lockdown im April zunächst wenig Daten gegeben. Mit Eindämmung der Pandemie seien kaum Sars-CoV2-Spuren im Abwasser gefunden worden. Bis zum Herbst habe sich aber eine Dynamik entwickelt und es habe sich gezeigt, dass es funktioniere. Kallies zufolge ist die Methodik zur Messung von Infektionszahlen über das Abwasser inzwischen ausgereift, könnte aber noch verfeinert werden. Für die Gültigkeit der Daten spreche auch die Kommerzialisierung, viele Labore und Dienstleister seien in dem Bereich aktiv.

Die Ergebnisse der PCR-Tests im Abwasser stellen Modellierer des UFZ und der TU Dresden in Beziehung zu den Zahlen des Robert Koch-Instituts. Diese Modellrechnungen sind nach TU-Angaben die wohl größte Herausforderung, denn Parameter wie etwa Menge und Ausscheidung der Viren durch die Bewohner des Kläranlagen-Einzugsgebiets unterscheiden sich stark. Auch Trockenheit oder Starkregen beeinflussten die Viruslast im Abwasser.

Abwasser-Tests sind relativ preiswert

Die DWA wirbt dafür, die Pandemie über den Abwasserpfad zu verfolgen. Auch die EU und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach plädieren für einen Ausbau des Monitorings.

Dabei argumentiert die DWA auch mit einem Kostenvorteil. Für ein ganzes Jahr seien in der bis März 2023 laufenden Pilotstudie des Bundes pro Kläranlage 60.000 Euro angesetzt. Würde man nur das Abwasser der 235 größten Kläranlagen in Deutschland auf Coronaviren untersuchen, wäre die Hälfte der Gesamtbevölkerung erfasst. Die Kosten lägen bei rund 14 Millionen Euro pro Jahr.

Zuletzt zahlte der Bund monatlich eine Milliarde Euro für Schnelltests, die jedoch kein umfassendes, zeitnahes Bild zur Infektionslage lieferten. In die offizielle Statistik fließt nur ein, wer einen positiven PCR-Test hatte. Viele Patienten mit milden Verläufen gehen jedoch erst gar nicht zum Hausarzt. Mit der neuen Kostenpflicht für Schnelltests droht laut DWA ein Blindflug in die erwartete neue Herbstwelle.

Was bringt das Abwasser-Monitoring?

Offen in der Debatte ist die wichtige Frage, wie mit den Ergebnissen des Abwasser-Monitorings und mutmaßlich höheren Infektionszahlen umgegangen wird, welche Konsequenzen sich ergeben.

Laut der Jenaer Projektleiterin Trommer sollte aus den Erkenntnissen der Forschungsarbeit abgeleitet werden, wie Gesundheitsämter und RKI davon profitieren können. Die Politik und ihre wissenschaftlichen Berater müssten dann daraus Infektionsschutzmaßnahmen ableiten.

Wichtig ist laut Trommer das Abwassermonitoring als Frühwarnsystem, weil es mehrere Tage Vorlauf vor den getesteten Infektionszahlen hat. Außerdem könnten im Abwasser frühzeitig Mutationen und neue Virusvarianten erkannt werden – aber auch andere Krankheitserreger.  Die Abwassserdaten seien eine sinnvolle Ergänzung, könnten aber Inidvidualtests nicht ersetzen, die Voraussetzung für Isolation und Quarantäne seien.

Der UFZ-Virologe Kallies sieht ebenfalls großes Potenzial zur frühzeitigen Entdeckung von Sars-CoV2-Varianten sowie anderer Erreger oder multiresistenter Keime. Dabei liege der Fokus zunehmend auf Krankheitserregern, die mit dem Klimawandel aus wärmeren Regionen nach Europa drängten. Auch er verweist auf den Kostenvorteil durch die Abwasseranalyse. Mit 250 bis 300 Euro für die PCR-Testung einer Abwasserprobe könne auf einen Schlag die Inzidenz für Tausende Menschen ermittelt werden.

Dennoch hält Kallies die Debatte ums Abwasser-Monitoring ein wenig für ein Scheingefecht. Die konkreten Auswirkungen seien überschaubar. Dass es eine hohe Dunkelziffer bei den Infektionszahlen gebe, sei bekannt. Dass in Hotspots wieder Schulschließungen oder Lockdowns verhängt werden, ist aus seiner Sicht derzeit politisch kaum durchsetzbar. Eventuell könnte man dort dann wieder Schnelltests kostenlos anbieten und verstärkt individuell testen und isolieren.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 05. Juli 2022 | 12:45 Uhr