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Ein Jahr KoalitionsvertragWas die Ampel schon umgesetzt hat – und was nicht

08. Dezember 2022, 12:41 Uhr

Die Ampel-Koalition lobt sich nach einem Jahr selbst, die Opposition zieht eine negative Bilanz – so weit, so erwartbar. Welche Vorhaben hat das neue Regierungsbündnis schon umsetzen können, welche nicht? Ob bei Wohnen, Verkehr oder Energiepolitik: Nicht zuletzt durch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine lief Weniges so, wie es sich die Ampel noch im letzten Dezember vorgestellt hatte.

Fast 100 Gesetze habe die Ampel in ihrem ersten Jahr auf den Weg gebracht, verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seiner Haushaltsrede Ende November im Bundestag. Damit verteidigte er sich gegen Vorwürfe von Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU): Der warf der Ampel-Koalition "handwerklich miserables Regierungshandeln" vor. Welche Bilanz also lässt sich ziehen nach einem Jahr Koalition aus SPD, Grünen und FDP? Ein Blick in den Koalitionsvertrag zeigt viele offene Vorhaben, aber auch manches gehaltene Versprechen:

Sozialpolitik

Die SPD war mit 12 Euro Mindestlohn als zentraler Forderung in den Bundestagswahlkampf gezogen – und konnte dieses Ziel im Koalitionsvertrag verankern. Seit Oktober gelten die 12 Euro nun. Die Entscheidung, wie sich der Mindestlohn angesichts der Rekordinflation weiter entwickeln wird, liegt inzwischen wieder in den Händen der Mindestlohnkommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften.

Ein weiteres sozialpolitisches Projekt aus dem Koalitionsvertrag ist das Bürgergeld, welches das besonders in der SPD ungeliebte Hartz IV ersetzen sollte. Inzwischen ist das Bürgergeld verabschiedet und kommt zum 1. Januar. Auf Druck der Union wurden allerdings mehrere großzügigere Neuregelungen abgeschwächt: Das Schonvermögen etwa wurde von 60.000 auf 40.000 Euro abgesenkt. Zudem sollen künftig schon ab dem ersten Tag Sanktionen möglich sein, wenn ein Betroffener die Zusammenarbeit verweigert.

Schließlich wollte die Ampel Leistungen für Kinder, darunter Kindergeld, Kinderzuschlag und Hartz IV-Leistungen, in einer Kindergrundsicherung zusammenfassen. Die automatische Auszahlung soll Kinderarmut verringern, da anspruchsberechtige Familien Leistungen nicht mehr einzeln beantragen müssen. Die Ampel lässt sich aber Zeit mit dem Gesetz: Fertig soll es erst Ende 2023 sein, die erste Auszahlung der Kindergrundsicherung ist sogar erst 2025 geplant.

Außen- und Sicherheitspolitik

Dass der Koalitionsvertrag vor der "Zeitwende" des russischen Überfalls auf die Ukraine unterzeichnet wurde, merkt man ihm an. "Die deutsch-russischen Beziehungen sind tief und vielfältig" heißt es dort, man strebe "substantielle und stabile Beziehungen" an. Die russlandfreundliche Rhetorik ist längst überholt: Deutschland ist zu einem der wichtigsten Verbündeten der Ukraine geworden, Lieferungen etwa des Luftabwehrsystems Iris-T und der Gepard-Panzer haben nach Einschätzung von Experten entscheidenden Anteil an den militärischen Erfolgen der Ukraine.

Auch das Zwei-Prozent-Ziel der Nato sparte man im Koalitionsvertrag noch aus. Das änderte sich mit Olaf Scholz‘ "Zeitenwende"-Rede vom 27. Februar: "Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in unsere Verteidigung investieren", kündigte Scholz damals an. Jüngst musste Regierungssprecher Steffen Hebestreit aber einräumen, dass die zwei Prozent erst am Ende der Legislaturperiode erreicht werden könnten.

Vermeintliche Abschaffung der "Sittenpolizei"Wie das iranische Regime versucht zu beschwichtigen

Für Aufsehen sorgte die Ankündigung im Koalitionsvertrag, man wolle im Sinne einer "Feminist Foreign Policy" (Feministischen Außenpolitik) Rechte von Frauen und Mädchen weltweit stärken. Den Beweis steht die Ampel allerdings noch aus: Kritiker werfen der Bundesregierung etwa vor, die feministischen Proteste im Iran aufgrund deutscher Wirtschaftsinteressen nicht ausreichend zu unterstützen – Deutschland ist der größte europäische Handelspartner des Iran.

Klimaschutz

Die Ampel-Koalition war mit großem Klima-Ehrgeiz gestartet. "Wir werden Klimaschutz zu einer Querschnittsaufgabe machen", heißt es im Koalitionvertrag: Im Rahmen eines "Klimachecks" sollte jedes Ministerium seine Gesetze auf deren Klimawirkung und die Vereinbarkeit mit den nationalen Klimaschutzzielen hin prüfen. Doch die Einführung des "Klimachecks" zieht sich hin: Nach Informationen des "Spiegel" soll er im ersten Halbjahr 2023 kommen.

Der Kohleausstieg sei "idealerweise" schon bis 2030 statt bis 2038 zu schaffen, heißt es im Koalitionsvertrag weiter. Der Kohleausstieg im Rheinischen Revier soll nun tatsächlich um acht Jahre auf 2030 vorgezogen werden. In den ostdeutschen Revieren ist ein früherer Kohleausstieg noch offen. Außerdem definiert der Koalitionsvertrag als Ziel, dass bis 2030 Wind- und Sonnenenergie 80 Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland decken.

Der Krieg in der Ukraine führte allerdings dazu, dass die Bundesregierung ihre Prioritäten verschob. Statt um erneuerbare Energien ging es darum, kurzfristig ausbleibende russische Energielieferungen zu kompensieren – notfalls auch mit Kohle- und Atomkraft. Stand jetzt verfehlt Deutschland seine Klimaziele für das Jahr 2030 deutlich, befand der Expertenrat der Bundesregierung kürzlich. Der Ausbau von Solaranlagen und Windparks auf See gehe zu langsam voran, bei Windparks an Land sehe es besser aus.

Verkehrspolitik

An das 49-Euro-Ticket war zum Zeitpunkt des Koalitionsvertrages noch nicht zu denken. SPD, Grüne und FDP sprachen lediglich davon, "die Fahrgastzahlen des öffentlichen Verkehrs deutlich zu steigern". Dafür sollten die milliardenschweren sogenannten Regionalisierungsmittel für den Schienenverkehr steigen. Das tun sie nun tatsächlich: In diesem Jahr gibt der Bund eine zusätzliche Milliarde, ab 2023 werden die Mittel jährlich um drei statt wie bislang um 1,8 Prozent steigen.

Die Koalition kündigte im Koalitionsvertrag an, dass bis 2030 mindestens 15 Millionen Elektroautos in Deutschland fahren sollen. Dieses Ziel scheint ein Jahr später zweifelhaft: Das Beratungsunternehmen PwC geht von knapp elf Millionen E-Autos bis 2030 aus. Ein wichtiger Knackpunkt: die Ladesäulen. Davon gibt es derzeit rund 70.000, der Ausbau läuft schleppend: Beim aktuellen Tempo gäbe es 2030 rund 200.000 Ladesäulen und nicht wie vom Bund anvisiert eine Million.

Bezahlbares Wohnen

400.000 neue Wohnungen jährlich nahm sich die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag vor – ein Viertel davon öffentlich gefördert. Davon ist Deutschland momentan weit entfernt: Haus-&-Grund-Chef Kai Warnecke prognostizierte im Oktober, nur rund 200.000 Wohnungen seien in diesem Jahr realistisch, Tendenz weiter sinkend. Um den Wohnungsbau anzukurbeln, stellte Bauministerin Klara Geywitz kürzlich einen Katalog mit nicht weniger als 187 Maßnahmen vor: darunter etwa Bauen mit Fertigteilen und digitalisierte Genehmigungsverfahren.

Im Koalitionsvertrag angekündigte Maßnahmen wie die "Neue Wohngemeinnützigkeit" und eine Absenkung der sogenannten Kappungsgrenze für Mietpreissteigerungen auf elf Prozent lassen bislang noch auf sich warten. Umgesetzt hat die Ampel dagegen ihr Vorhaben, auch Vermieter an der CO2-Abgabe für das Heizen mit Erdgas und Öl zu beteiligen. Ab 1. Januar müssen nicht mehr nur Mieter die Abgabe tragen – ein halbes Jahr später als im Koalitionsvertrag vorgesehen.

Die spürbarste Entlastung für viele Menschen dürfte aber das neue Wohngeld bringen – eine Maßnahme, die in dieser Größenordnung noch nicht im Koalitionsvertrag vorgesehen war. Ab dem neuen Jahr haben zwei Millionen statt wie bisher 600.000 Haushalte Anspruch auf den Mietzuschuss, der zudem deutlich steigt. Die Auszahlung könnte sich allerdings bis in den Sommer hinziehen, befürchten Experten.

Einwanderung und Asyl

"Wir werden irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen": Unter dieses Schlagwort stellte die Ampel das Kapitel im Koalitionsvertrag zu Migration und Asyl. Ein Kernvorhaben hat erst vor wenigen Tagen den Bundestag passiert: das "Chancen-Aufenthaltsrecht", das gut integrierten Ausländern ein Bleiberecht ermöglichen und die Praxis der Kettenduldungen beenden soll. Andere Vorhaben – etwa ein vereinfachter Familiennachzug – warten dagegen noch auf Umsetzung.

Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, einigten sich die Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag zudem auf eine "Chancenkarte": ein Punktesystem, "um Arbeitskräften zur Jobsuche den gesteuerten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen". Eckpunkte hierzu beschloss die Regierung Ende November. Auswahlkriterien können demnach Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter sein. Auch mit schnelleren Einbürgerungen will die Ampel Arbeitskräfte anlocken – die Union hat jedoch bereits Widerstand angekündigt.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 05. Dezember 2022 | 13:36 Uhr