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Koalition im Krisenmodus | Teil 6Ampel ringt um Kindergrundsicherung

12. September 2022, 09:47 Uhr

Trotz Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation arbeitet die Bundesregierung im Hintergrund an einem Mammutprojekt: Sieben Ministerien wollen unter Leitung von Familienministerin Lisa Paus die Kinderarmut eindämmen. Das Ziel Kindergrundsicherung steht im Regierungsvertrag, doch nicht alle Koalitionäre stehen noch geschlossen dazu. Die Finanzierung der Systemreform scheint auf der Kippe zu stehen.

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. In einem der reichsten Länder der Erde bedeutet das im Regelfall nicht direkt die Obdachlosigkeit. Vielmehr bedeutet es, dass viele dieser Minderjährigen keine warmen Mahlzeiten erhalten, kein Taschengeld bekommen, Theater- und Kinobesuche auslassen müssen und Klassenfahrten nur aus Erzählungen kennen. In Ostdeutschland läuft sogar jedes vierte Kind Gefahr, in Armut aufzuwachsen.

Das höchste Armutsrisiko der Kinder ist und bleibt dabei der geringe Verdienst oder die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern. Die aktuelle Inflation und Energiekrise treffen dabei untere Einkommensschichten zwei bis drei Mal so stark wie Menschen mit mittleren und höheren Einkommen. Experten gehen davon aus, dass die derzeitigen Krisen die Situation von Kindern in armen Familien drastisch verschlechtern könnten. Die vom Finanzministerium geplante Kindergelderhöhung um sechs Euro für die ersten beiden Kinder und um zwei Euro für das dritte Kind ab 2023 reicht aus Sicht der grünen Familienministerin Lisa Paus nicht einmal dafür aus, die Inflation von knapp acht Prozent auszugleichen.

Eine Dschungel nicht zielgenauer Leistungen

Von Kindergeld über Harz-lV-Leistungen für Kinder und Kinderzuschlag, bis hin zum Bildungs- und Teilhabepaket gibt es dabei eine unübersichtliche Menge an Einzelmaßnahmen, die Chancengleichheit und Bildung für Kinder und Jugendliche ermöglichen sollen. Paradoxerweise erhalten dabei reichere Eltern durch die bisherigen Unterstützungsleistungen vergleichsweise mehr Geld vom Staat als Eltern, deren Kinder tatsächlich von Armut bedroht sind. Weiter sind die einzelnen Leistungen häufig so kompliziert zu beantragen, dass vor allem jene sie nutzen, die sich einen Finanzberater leisten könnten, der ihnen erklärt, wie es geht.

Kindergrundsicherung soll Leistungen bündeln und staffeln

Ein unhaltbarer Zustand, befand die Ampel in ihren Koalitionsverhandlungen im Herbst vergangenen Jahres. Grüne und SPD pochten auf die Einführung einer Kindergrundsicherung, die staatliche Leistungen für Kinder zum einen bündeln und zum anderen sozial staffeln soll. Geht es nach den Grünen, wären das ungefähr 290 Euro für alle Kinder und bis zu maximal 547 Euro für Kinder von Eltern mit geringen Einkommen.

Seit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags könnte man meinen, dass die Öffentlichkeit in Sachen rot-grün-gelber Familienpolitik – außer vom Rücktritt der dafür zuständigen Ministerin Anne Spiegel (B‘90/Grüne) – nicht viel mitbekommen hätte. Ganz stimmt das aber nicht. Schließlich sind in den Entlastungspaketen, die seit Kriegsbeginn verhandelt und beschlossen werden, auch viele Maßnahmen für Kinder und Familien enthalten. Die Entlastungen sind jedoch kaum sozial gestaffelt. Die jetzt von der FDP geforderten Steuersenkungen helfen beispielsweise in erster Linie Besserverdienenden.

Der leise Tod der Kindergrundsicherung?

Von kurzfristigen Entlastungspaketen sieht und hört man in diesen Tagen viel – von lang angelegten Systemreformen eher weniger. Das Projekt, an dem unter der Federführung von Familienministerin Paus sieben Ministerien still und nach eigener Aussage strebsam arbeiten, droht einen leisen Tod zu sterben. Paus erklärt, bis zum Ende der Legislaturperiode sollten alle Hemmnisse und Hürden aus dem Weg geräumt sein. Das sind aber noch enorm viele. Vom Digitalisierungsgrad der Jobcenter bis zur Neubestimmung des soziokulturellen Existenzminimums von Kindern.

Der Knackpunkt für die Kindergrundsicherung dürfte dabei jedoch wie immer das liebe Geld werden. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft würden die Pläne der Grünen für eine Kindergrundsicherung den Staat 20 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Finanzminister Christian Lindner stellt sich zurzeit jedoch gegen jede Steuererhöhung für Besserverdienende und auch gegen eine Aufweichung der Schuldenbremse. Wo also soll das Geld herkommen?

Hier dürfte es entscheidend werden, ob in Zeit von Krieg und Inflation die Ampel Kinderarmut als weiteren Krisenherd identifiziert und unabsehbare Krisen mit den Vorhaben des Koalitionsvertrags zu vereinen weiß. Das Familienministerium sagt, man liege voll und ganz im Zeitplan. Geht es nach der Familienministerin, ist die Kindergrundsicherung gerade jetzt eine Frage der "inneren Stabilität des Landes". Wenn die Stabilität der Ampel-Pläne nicht außerhalb des Landes entschieden werden soll, müssen die Koalitionäre Prioritäten setzen.

Baustellen-Ampel: Krieg, Krise und KonflikteNoch keine deutsche Regierung nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 musste eine solche Krise bewältigen.

Der Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine beeinflusst das politische Handeln der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP auf fast allen Ebenen und stellt die Regierung im Herbst zahlreiche Probleme und schwere Entscheidungen.

Die zentrale Frage: Wie kann man die Belastungen durch die Folgen des Krieges für die Bevölkerung und die Wirtschaft zu begrenzen, dass Deutschland nicht in eine tiefe ökonomische und gesellschaftliche Krise rutscht. Die Parameter sind äußerst ungünstig: Ein Ende des Krieges ist nicht abzusehen. Die Energiepreise explodieren. Die Inflation strebt der 10-Prozent-Grenze zu. Unser Wohlstand ist bedroht. In den nächsten Tagen wollen wir mit unseren Beiträgen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Baustellen der Regierung vorstellen und die bisher bekannten Lösungsansätze. Die Entwicklung ist allerdings so dynamisch, dass wir sicher den ein oder anderen Beitrag überarbeiten und der aktuellen Lage anpassen müssen.

Die Baustellen-Ampel: Alle Artikel der Serie

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 23. August 2022 | 13:30 Uhr