Unter der Lupe – die politische KolumneAngriffe auf Politiker sind Angriffe auf uns alle
Sie gehen, weil wir sie im Stich lassen: Politiker sind immer häufiger Gewalt und Bedrohungen ausgesetzt. Manche von ihnen treten deswegen den Rückzug an. In den letzten zwei Wochen teilten zwei sächsische Spitzenpolitiker mit, dass sie unter anderem auch wegen dieser Gewalt von ihren politischen Ämtern absehen wollen. Das Thema ist nicht neu, aber wir müssen so lange darüber reden, bis sich etwas ändert. Denn es wird sich nur dann etwas ändern, wenn wir Extreme ausgrenzen.
- Politiker werden vermehrt Ziel von Bedrohungen und Angriffen.
- Vor politischem Stalking soll die Politiker bald ein Gesetz schützen – der Bundestag muss noch zustimmen.
- Das Problem ist die schweigende Mehrheit – viele in schauen im Alltag weg.
Es sind zwei unterschiedliche Fälle, innerhalb von zwei Wochen, die aufmerken lassen. Da ist die Bundestags-Vizepräsidentin Yvonne Magwas, die seit 2013 im Bundestag saß und in der vergangenen Woche bekannt gibt, dass sie sich nach reichlicher Diskussion mit ihrer Familie dazu entschieden habe, bei der nächsten Bundestagswahl nicht erneut antreten zu wollen.
In Ihrer persönlichen Erklärung nimmt Magwas auch Bezug zur politischen Stimmung in Sachsen: "Zur Wahrheit gehört auch, dass das gesellschaftliche Klima in den letzten Jahren erheblich rauer geworden ist, insbesondere in Sachsen (...) Es wird gelogen, diskreditiert, gehetzt; die Demokratie und ihre Institutionen werden von AfD, Freien Sachsen, III. Weg, NPD und wie sie alle heißen, Tag für Tag und systematisch in Frage gestellt mit dem Ziel sie abzuschaffen", schrieb die Bundestags-Vizepräsidentin.
Zu viele halten den Mund
Ebenfalls für Aufsehen sorgte der Rücktritt des Landrats von Mittelsachsen, Dirk Neubauer (parteilos). Nach zwei Amtsjahren will Neubauer kein Landrat mehr sein.
Seit Monaten sei er mit einer "diffusen Bedrohungslage aus der rechten Ecke" konfrontiert worden, sagt Neubauer. Aufgeben würde er, "weil zu viele den Mund halten".
Neubauer war zuvor von der rechtsextremen Partei "Freie Sachsen" zum "größten Feind aller Mittelsachsen" erklärt worden. Autokorsos durch Neubauers Wohnort und Proteste direkt vor seinem Haus folgten. Neubauer zog mit seiner Familie weg, Hass und Bedrohungen blieben. Das Resultat kennen wir.
Keine Einzelfälle
Nicht erst seit den Corona-Protesten vor Privathäusern etwa von Ministerpräsident Michael Kretschmer oder Sozialministerin Petra Köpping sehen wir eine immer weiter fortschreitende Verrohung in der Gesellschaft. Dass diese Angriffe auf Politiker mitnichten Einzelfälle sind, ist offensichtlich.
Eine bundesweite Rückschau auf die erste Hälfte des Jahres: Der Aschermittwoch der Grünen in Bayern wird wegen Gewaltaufrufen abgesagt. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt wird nach einer politischen Veranstaltung bedrängt, danach versuchen Demonstranten sie an der Abfahrt zu hindern und schlagen auf ihr Auto ein. Der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, wird im Wahlkampf beim Plakatieren von jugendlichen Tätern zusammengeschlagen, ihm wird das Jochbein gebrochen. Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter wird in Aalen von einem Kreistagsabgeordneten einer lokalen Querdenkerpartei am Wahlstand zu Boden gestoßen und geschlagen.
Ein weiterer Angriff geschieht erst diese Woche. Die Brandenburger CDU-Landtagskandidatin Adeline Abimnwi Awemo wird in Cottbus beim Plakatieren von einer Frau rassistisch beleidigt und geschlagen. "Ihr seid keine Menschen", soll sie geschrien haben. Die Aufzählung ist nicht ansatzweise vollständig.
Angriffe mit System
All diesen Angriffen geht Hetze voraus. Eine Demonstration vor dem Privathaus eines Landrats geschieht nicht spontan. Das hat System. Wenn dieser Landrat, im Fall von Neubauer, zuvor als "größter Feind aller Mittelsachsen" gebrandmarkt wird, ist das keine versehentliche Entgleisung, sondern eine gezielte Einschüchterung, die weiterführende Taten einkalkuliert und vorbereitet.
Die Angriffe haben auch gemein, dass sie von Menschen erfolgen, die mit den demokratischen Prinzipien dieses Staats nichts zu tun haben wollen. Menschen, die die demokratische Verfasstheit unseres Rechtsstaats verachten.
Es ist wichtig, dass wir den Ton in der gesellschaftlichen Debatte nicht den Spaltern überlassen.
Bundeskanzler Olaf Scholz
Bundesländer handeln, Bundeskanzler mahnt
Der Bundesrat hat noch vor seiner Sommerpause auf Initiative der sächsischen Landesregierung hin ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Politiker lokal wie überregional schützen soll.
Kern dieses Gesetzesvorhabens ist die Schaffung eines neuen Straftatbestands der Beeinflussung von Amts- und Mandatsträgern durch sogenanntes "politisches Stalking", also Auflauern in ihrem privaten Umfeld, Nötigung usw. Damit sollen Entscheidungsträger gerade auch auf kommunaler Ebene vor einer Einflussnahme durch bedrohliche Übergriffe in ihr Privatleben geschützt werden. Es ist davon auszugehen, dass der Bundestag dem Gesetz nach der Sommerpause zustimmt.
Auch der Bundeskanzler nahm in seiner Sommerpressekonferenz Stellung zu den jüngsten Rücktritten und Angriffen auf Politiker: "Deswegen ist es so wichtig, dass wir den Ton in der gesellschaftlichen Debatte nicht den Spaltern überlassen, sondern von denen, die über alle Parteigrenzen hinweg auf Zusammenhalt und Zusammenarbeit setzen."
Da hat der Kanzler Recht. Der Appell ist aber nicht nur an Politiker gerichtet. Das allein würde auch kaum etwas bringen.
Angriff auf uns alle
Politik ohne Amtsträger funktioniert nicht. Wir müssen uns einmischen. Anders geht es nicht. Eine parlamentarische Demokratie mit gewählten Vertretern funktioniert nur dann, wenn diese sich auch ausreichend geschützt fühlen. Dieser Schutz kann nicht nur von Sicherheitsbeamten oder einer Abschreckung durch hohe Strafen ausgehen. Der Schutz muss von allen Bürgern kommen, denen etwas daran gelegen ist, dass wir ein demokratisches Land bleiben. Wenn gewaltbereite Minderheiten für Rücktritte von Amtsträgern sorgen, ist Solidarität mit Amtsträgern unerlässlich. Da muss es egal sein, welches Parteibuch der Amtsträger hat.
Nach dem Angriff auf Matthias Ecke gab es Solidaritätskundgebungen. Wo waren die, als Landrat Neubauer wieder und wieder von Rechtsextremen vor seinem Wohnort belästigt wurde? Wer hat seine Nachbarn auf diesen Demos erkannt und sie nicht darauf angesprochen? Warum widersprechen so viele Menschen nicht, wenn ihre Nachbarn, Kollegen oder Freunde Politiker zu Feinden erklären?
Das sind Fragen, die wehtun. Wir müssen sie uns trotzdem stellen.
Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 24. Juli 2024 | 19:30 Uhr