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Bundesaufnahmeprogramm für AfghanistanVorbehalte in Mitteldeutschland gegen neues Asylprogramm für gefährdete Afghanen

21. Oktober 2022, 10:30 Uhr

Der Bund plant ein weiteres Asylprogramm, nach dem pro Monat etwa 1.000 bedrohte Menschen aus Afghanistan nach Deutschland kommen können – zusätzlich zum Programm für einstige Helfer. Thüringen begrüßt das Bundesprogramm, in Sachsen und Sachsen-Anhalt gibt es Vorbehalte. MDR AKTUELL hat nachgefragt, wie viele Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban nach Mitteldeutschland gekommen sind und wie es jetzt weitergehen soll.

Das Bundesinnenministerium (BMI) und das Auswärtige Amt haben beschlossen, dass Deutschland monatlich etwa 1.000 von den Taliban bedrohte Menschen aufnimmt. Es geht um den Schutz von Afghaninnen und Afghanen, die wegen ihres Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte, ihre Zusammenarbeit mit westlichen Staaten und internationalen Organisationen oder aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung gefährdet sind.

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Die Verteilung auf die Bundesländer erfolgt nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel zur Unterbringung von Asylbewerbern. Die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen begrüßt die Aufnahme gefährdeter Menschen aus Afghanistan. Dagegen gibt es in den CDU-geführten Innenministerien in Sachsen und Sachsen-Anhalt Kritik – etwa am Auswahlverfahren. Ohnehin wird immer lauter vor einer Überlastung Deutschlands durch Geflüchtete gewarnt.

Thüringen: Gut 300 zusätzliche Geflüchtete aus Afghanistan pro Jahr sind verkraftbar

Das Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz begrüßt das neue Bundesprogramm zur Aufnahme gefährdeter Menschen in Afghanistan. Sprecher Oliver Will erläutert MDR AKTUELL, man halte die Unterbringung in Kooperation mit den Kommunen für machbar. Dass eine Einigung etwa zur Finanzierung möglich sei, habe Thüringen bei den Geflüchteten aus der Ukraine gezeigt. Zudem hoffe Thüringen auf den Bund, der Immobilien für Geflüchtete in Aussicht gestellt habe.

Gemäß Verteilungsquote von 2,63 Prozent bedeutet das neue Bundesprogramm für den Freistaat etwa 26 Geflüchtete aus Afghanistan pro Monat und 310 im Gesamtjahr. Seit dem Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan im Sommer 2021 wurden im Rahmen des sogenannten Ortskräfteverfahrens in Thüringen bis Ende September 2022 insgesamt 716 afghanische Staatsangehörige aufgenommen (160 "Referenzpersonen" sowie 556 Familienangehörige). Außerdem haben nach Ministeriumsangaben seit der Machtübernahme der Taliban bis Ende September 2022 knapp 1.000 afghanische Staatsangehörige einen Asylerstantrag gestellt.

Zudem hält die rot-rot-grüne Landesregierung an ihrem Plan für ein eigenes Landesaufnahmeprogramm für Verfolgte in Afghanistan fest. Diese Landesinitiative hatte 2021 der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ausgebremst. Sprecher Will zufolge wird der Thüringer Plan jetzt mit dem neuen Bundesprogramm abgestimmt. Im Haushaltsentwurf für 2023 sind dafür Mittel eingeplant, aber noch nicht beziffert. Thüringens Migrationsminister Dirk Adams (Grüne) war vor einem Jahr von etwa 1,5 Millionen Euro ausgegangen. Ähnliche Landesinitiativen gibt es nach BMI-Angaben aus Berlin und Bremen.

Sachsen-Anhalt sieht zunächst den Bund in der Pflicht

Das Innenministerium in Magdeburg teilte MDR AKTUELL mit, dass seit Abzug der Bundeswehr im Sommer 2021 bis Oktober 2022 insgesamt 716 Menschen aus Afghanistan über das Bundesprogramm für afghanische Ortskräfte inklusive Familienangehörigen nach Sachsen-Anhalt eingereist seien. Hinzu kommen 851 afghanische Staatsangehörige, die in der Zeit von Mitte August 2021 bis 18. Oktober 2022 als Asylsuchende nach Sachsen-Anhalt gekommen sind.

Die Quote für Sachsen-Anhalt liegt laut dem Königsteiner Schlüssel bei etwa 2,7 Prozent. Bei einem geplanten Gesamtkontingent von 1.000 Afghaninnen und Afghanen pro Monat entspricht das 27 Menschen im Monat und etwa 320 pro Jahr.

Doch Sachsen-Anhalt sieht das Programm kritisch. Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) sagte: "Kommunen müssten nun die zusätzlichen Aufnahmen in einer ohnehin schon sehr angespannten Situation bewerkstelligen." Zudem sei das Auswahlverfahren unklar. Aus Zieschangs Sicht sollte der Bund vorübergehend die Unterbringung der Afghanen organisieren.

Sachsen: Bestehende Aufnahmeprogramme reichen aus

Beim neuen Bundesprogramm sieht der Verteilungsschlüssel vor, dass Sachsen etwa fünf Prozent der gefährdeten Menschen aus Afghanistan aufnimmt. Das wären etwa 50 Afghanen monatlich und 600 pro Jahr. Nach Angaben aus Dresden muss das Verfahren jetzt erst einmal anlaufen und es müssen Strukturen im Bundesinnenministerium etabliert werden.

Das Sächsische Innenministerium bekräftigte seine Vorbehalte gegen das neue Programm. In einer Antwort an MDR AKTUELL heißt es: "Die bestehenden Aufnahmeprogramme für Ortskräfte (...) sowie die allgemeinen ausländerrechtlichen Asylregelungen sind geeignet und ausreichend, um Personen Schutz zu gewähren."

In Sachsen sind seit dem Sommer 2021 1.452 afghanische Ortskräfte und besonders Schutzbedürftige inklusive Familienangehörigen untergekommen. Das sächsische Innenmninisterium weist darauf hin, dass diese Ortskräfte und besonders gefährdeten Personen mit einer Aufnahmezusage des Bundes einreisten und daher kein Asylverfahren durchliefen. Darüber hinaus seien bis 30. September insgesamt 973 afghanische Staatsangehörige als Asylbewerberinnen und -bewerber in Sachsen registriert worden.

Schon im September hatte Innenminister Armin Schuster (CDU) gewarnt, der Freistaat stoße angesichts steigender Flüchtlingszahlen an Kapazitätsgrenzen. Wohnraum sei zunehmend knapp, an Kitas und Schulen drohe eine Überlastung. In einem Brief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser forderte der CDU-Politiker eine "Rückführungsoffensive".

Bundesinnenministerium: Neues Aufnahmeprogramm ergänzt Ortskräfteverfahren

Das BMI teilte MDR AKTUELL auf Anfrage mit, das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan und das bereits bestehende Ortskräfteverfahren beruhten auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen. Der spezifische Kontext des Ortskräfteverfahrens sei nicht zur Ausweitung auf eine Gruppenaufnahme für andere Zielgruppen geeignet.

Das Auswahlverfahren ist kompliziert: Beim Bundesaufnahmeprogramm können sich Betroffene nicht selbst bewerben. Sie müssen durch von der Bundesregierung bestimmten "meldeberechtigten Stellen" vorgeschlagen werden. Dazu gehören zivilgesellschaftliche Organisationen und Projekte, die zwischen 2013 und 2021 unterstützt wurden sowie während der Evakuierung im August 2021 mit dem Auswärtigen Amt zusammengearbeitet haben.

Koordinierungsstelle soll Fälle für das BMI vorbereiten

Den zivilgesellschaftlichen Organisationen in Afghanistan bleibt es selbst überlassen, ob und wie sie ihre Teilnahme öffentlich machen. Mit Blick auf eine fortgesetzte vertrauensvolle Zusammenarbeit macht das BMI dazu keine Angaben.

Eine Koordinierungsstelle unter Leitung von Bundeswehroffizier Marcus Grotian soll die am Programm beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen beraten und Strukturen etablieren. Sie ist die Schnittstelle für Anfragen, Aufbereitung, Plausibilisierung und Übermittlung von Fällen und die Kommunikation mit dem BMI. Der Afghanistan-Veteran Grotian hat das Patenschaftsnetzwerk für Ortskräfte mit aufgebaut.

Dem Auswärtigen Amt zufolge soll das Programm bis September 2025 laufen.

MDR,dpa(cvt,ans)

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 17. Oktober 2022 | 12:00 Uhr

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