Unter der Lupe – Die politische Kolumne Demokratie im Stresstest

30. Oktober 2022, 14:20 Uhr

Die Geschichte war 1989 mit dem Fall der Mauer doch nicht beendet. Wir befinden uns in einer neuen Systemauseinandersetzung zwischen Autokratien wie in Russland und China und den westlichen Demokratien, wie in Europa oder den USA. Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien wie in Italien, Schweden oder Frankreich sind Symptome für eine wachsende Unzufriedenheit mit unserem Gesellschaftsmodell. Und davon ist auch Deutschland betroffen.

Bisher hatte das Gesellschaftsmodell Demokratie, jedenfalls in Europa, die Nase vorn. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Demokratie einen Siegeszug gefeiert. Sämtliche Staaten des einstigen Ostblocks haben sich dafür entschieden. Die Kehrseite der Medaille: Nicht wenige Demokratien, nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, befinden sich in einem Stresstest. Und nicht erst seit Russlands Krieg gegen die Ukraine, mit dem der Systemwettstreit die Form eines heißen Krieges angenommen hat.

Immer mehr Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien

Waren Polen und Ungarn Vorreiter bei der Demokratisierung noch vor dem endgültigen Fall des Eisernen Vorhangs, gibt es heute dort Einschränkungen bei demokratischen Freiheiten wie Presse- und Meinungsfreiheit. In den USA könnte mit einem möglichen Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen ein Comeback Trumps näher rücken. Großbritannien rutscht nach dem Brexit immer tiefer eine Krise seiner politischen Klasse.

In den alten Demokratien Europas haben rechtspopulistische Parteien immer mehr Zulauf. So erreichte bei den letzten Wahlen der Rassemblement National in Frankreich 17 bis 18 Prozent, die Schwedendemokraten 20,5 Prozent und die Fratelli d’Italia 25,9 Prozent. In Italien reichte dieses Ergebnis, dass eine Neofaschistin, Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin wurde.

Unzufriedenheit mit der Demokratie wächst

In Deutschland liegt nach letzten Umfragen im Oktober die AfD jetzt bei 15 Prozent, nur noch zwei Prozent entfernt von der Kanzlerpartei SPD. Zugleich wächst die Unzufriedenheit mit der Demokratie. Im deutschen Gesamtbild liegt der Anteil derjenigen, die weniger oder gar nicht mit der Demokratie zufrieden sind, jetzt bei 47 Prozent. Nur noch 51 Prozent sind zufrieden. Ein Zuwachs an Unzufriedenheit von 12 Prozent gegenüber 2020.

Gern wird da schnell mit dem Finger auf die Ostdeutschen gezeigt, wo der Anteil mit 63 Prozent noch deutlich höher ist. In Mitteldeutschland liegt er nach Ergebnissen einer Umfrage von mdrFRAGT unter 29.500 Menschen sogar bei 74 Prozent. Aber auch in Westdeutschland ist der Anteil der Unzufriedenen immerhin in zwei Jahren fast im gleichen Maß gewachsen wie in Ostdeutschland, nämlich um 13 Prozent auf 44 Prozent.

Allerdings darf man nicht alle Unzufriedenen mit der Demokratie mit Gegnern der Demokratie gleichsetzen. Das ist falsch. Bei vielen Befragten sind es andere Motive: Sorge und Angst, Wut, Resignation. Genau diese Symptome muss die Politik stärker wahrnehmen, als sie es momentan macht.

Es ist sogar vielmehr so, dass sie durch ihr gegenwärtiges Handeln die Unzufriedenheit mit der Demokratie noch erhöht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte am Freitag in seiner Rede: "Auch unsere Demokratie gehört zur kritischen Infrastruktur. Sie steht unter Druck. Das verlangt von uns Demokraten mehr als Bekenntnisse." Es verlangt vor allem für den Bürger nachvollziehbares politisches Handeln.

AfD profitiert von mangelhaftem Krisenmanagement

Vielleicht ist der prophezeite "Heiße Herbst" als Ausdruck dieser Unzufriedenheit bisher ausgeblieben und ist trotz Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern in Ostdeutschland noch ein ziemlich laues Lüftchen. Aber die Wahlergebnisse bei der Landtagswahl in Niedersachsen sollten die Berliner Parteizentralen genauer lesen. Der AfD ist es in einem westdeutschen Flächenland gelungen, mit 10,7 Prozent ihr Ergebnis von 2017 fast zu verdoppeln.

Dabei saugte die Rechtsaußenpartei jeweils 40.000 Stimmen bei CDU und SPD sowie 25.000 von der FDP ab. Insgesamt also 105.000 Stimmen. Mit ihrem Geschäftsmodell, die Unzufriedenheit mit der Demokratie in Wählerstimmen umzumünzen, gelang ihr ein massiver Einbruch in die bürgerlichen und mit der SPD auch in die linksliberalen Wählerpotenziale. Schaut man auf die Umfragen zu den bevorstehenden Landtagswahlen im nächsten Jahr, könnte sich dieser Trend fortsetzen.

Deshalb sollte man die wachsende Unzufriedenheit nicht einfach abtun, mit dem Verweis auf den permanenten Ampelstreit um die Entlastungspakete, Gas- und Strompreisbremsen sowie Aus- oder Wiedereinstiege bei der Atomenergie. Doch genau das derzeitige Krisenmanagement zeigt das Problem der Demokratie in Deutschland. Der Staat wirkt oft nicht handlungsfähig in einer tiefgehenden Krise. Und das nicht zum ersten Mal.

Bundesregierung hinkt im Krisenmanagement hinterher

Ähnlich verhielt es sich schon in der Finanzkrise und in der Coronakrise. Der Ökonom und Leibnitz-Preisträger Moritz Schularick kritisierte mit mehreren Kollegen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass: "Berlin weiter die Entscheidungs- und Evaluationsstrukturen fehlen, um komplexe strategische Fragen zu beurteilen. Die Folge ist, dass die Berliner Politik immer wieder von den Ereignissen überrannt wird und im Krisenmanagement hinterherhinkt."

Beispiel Energiekrise: Seit Jahren ist beschlossen, aus Kernenergie und bald aus der Kohle auszusteigen. Dafür Vorsorge zu treffen, durch den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze, wurde schlichtweg verschlafen.

Beispiel Digitalisierung: Mehr Zielgenauigkeit der Maßnahmen für Betroffene von hohen Gas- und Energiepreisen wäre zu erreichen, wenn es endlich eine digitale Verwaltung gäbe. Statt durch vorliegende digitale Akten schnell einen Überblick zu haben, wer Anspruch auf soziale Transfermaßnahmen hat und jetzt noch mehr beanspruchen könnte, muss nun das Geld mit der Gießkanne ausgeschüttet werden, damit es schnell hilft. Wenn sich der Staat dann für eine digitale Erfassung wie bei der neuen Grundstückssteuer entscheidet, gerät das Vorhaben zu einem Desaster.

Beispiel Flüchtlingspolitik: Obwohl der Flüchtlingsstrom nicht abreist, gibt es kein Konzept für eine intelligente Integrationspolitik. Sie besteht weiter aus langen Anerkennungsverfahren, verbunden mit Transferleistungen. Eine erfolgreiche Integration der Geflüchteten wird nur durch Fördern und Fordern über den Arbeitsmarkt stattfinden. Dafür fehlt es aber an Konzepten, Gesetzen, Personal und Strukturen.

Staaten müssen auf Krisen vorbereitet sein

Moritz Schularick kommt zu dem Schluss, dass wir: "Ministerien mit kompetenten Mitarbeitern haben, aber ihre Aufgabe ist nicht strategisch vorauszudenken, sondern nur exekutiv so zu handeln, was die Gesetze erlauben." Macht darf aber in einer Demokratie nicht nur verwaltet werden. Will man also wieder mehr Vertrauen und Zufriedenheit mit der Demokratie bei den Bürgern erreichen, muss politisches Denken und Handeln wieder stärker von Voraussicht und langfristigem strategischen Denken geprägt sein.

Den meisten Bürgern ist klar, dass die Welt und ihre Probleme komplexer geworden sind. Die Regierenden dürfen nicht wie bisher weiter warten, bis ein Problem zur Krise wird. Vorher müssen überzeugende Lösungen auf den Weg gebracht werden. Nur wer auf Krisen vorbereitet ist, kann im Systemwettstreit gewinnen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 28. Oktober 2022 | 17:45 Uhr

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