Ukrainer versammeln sich in Berlin-Mitte zu einer Demonstration, um sich unter dem Motto Heute sagen wir Vielen Dank.
Geflüchtete aus der Ukraine sagen bei einer Kundgebung in Berlin im Sommer Danke für die Unterstützung aus Deutschland im Krieg gegen Russland. Bildrechte: IMAGO / snapshot

Faktencheck Geflüchtete aus der Ukraine bekommen Bürgergeld

04. Oktober 2022, 14:29 Uhr

Geflüchtete aus der Ukraine werden nach Hartz IV auch das neue Bürgergeld erhalten. Sie haben damit ähnliche Ansprüche wie deutsche Staatsbürger. Vom System bevorzugt werden sie aber nicht. Ein Vorurteil lautet, Leistungsbezieher bekämen Wohnkosten erstattet, Menschen mit geringen Löhnen oder Renten jedoch nicht und sind damit bei steigenden Energiekosten benachteiligt. Das ist mindestens zu pauschal, zeigt unser Faktencheck.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Andreas Sandig
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Geflüchtete aus der Ukraine bekommen nach Hartz IV auch Bürgergeld

Die Politik hat entschieden, dass Geflüchtete aus der Ukraine Hartz-IV-Leistungen erhalten – und ab 2023 entsprechend das neue und höhere Bürgergeld. Jochen Hövekenmeier vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erläutert MDR AKTUELL, das entspreche der EU-Massenzustrom-Richtlinie. Mit der Umsetzung in Deutschland erhalten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sofort einen Aufenthaltstitel. Das Asylverfahren wird ihnen erspart, da sie als Kriegsflüchtlinge ohnehin anerkannt worden wären. Demnach bekommen sie die gleichen Grundleistungen wie anerkannte Asylbewerber aus anderen Staaten und andere Anspruchsberechtigte in Deutschland.

Dass diese Leistungen für Geflüchtete im europäischen Vergleich hoch ausfallen, liegt daran, dass die Sozialleistungen in Deutschland allgemein hoch sind. Hövekenmeier zufolge hätte der Gesetzgeber die Leistungen für Ukraine-Flüchtlinge auch niedriger ansetzen können, aber diese Menschen stehen schließlich dem Arbeitsmarkt voll und ganz zur Verfügung. Man habe keine Zwei-Klassen-Gesellschaft gewollt und setze auf eine schnelle Integration bei Bildung und am Arbeitsmarkt. Die Menschen aus der Ukraine sollen "mit uns leben und nicht nur unter uns".

Die Menschen aus der Ukraine sollen mit uns leben und nicht nur unter uns.

Jochen Hövekenmeier BAMF

Niemand wisse, so Hövekenmeier, wie lange Russlands Krieg gegen die Ukraine noch dauere und wie lange die Geflüchteten in Deutschland blieben. Mit Dauer des Krieges und fortschreitender Integration sei es durchaus möglich, dass viele dauerhaft migrierten. Das zeige die Erfahrung mit Vertriebenen während der Jugoslawien-Kriege. Vor allem für die Jugend sei dann Deutschland die neue Heimat.

Auch Margret Böwe vom Sozialverband VdK geht davon aus, dass Geflüchtete aus der Ukraine künftig das Bürgergeld bekommen. Sie räumt noch mit einem häufigen Missverständnis bei den Wohnkosten für Hartz-IV-Empfänger auf: Böwe erklärt MDR AKTUELL, Miete und Heizkosten würden nicht unbegrenzt vom Staat übernommen. Das gelte ebenso für die Stromkosten, die nicht extra gezahlt würden, sondern Teil des Hartz-IV-Satzes seien. Diese Strompauschale liege zudem unter dem Durchschnittsverbrauchswert.

Regelung für angemessenen Wohnraum ausgesetzt

Jedoch ist die Regelung zur Erstattung nur angemessener Wohnkosten seit 2020 wegen der Corona-Krise ausgesetzt. Das heißt, bei Hartz-IV-Leistungsempfängern, die eine neue Wohnung brauchen, wird für ein halbes Jahr nicht die Angemessenheit überprüft und das Jobcenter zahlt die vollen Kosten. Dann gibt es noch weitere etwa 6 Monate Zeit, um sich eine angemessene Wohnung zu suchen. Danach wird nur ein angemessener Wohnkostenbetrag erstattet.

Diese Aussetzung der Angemessenheitspflicht gilt auch für Geflüchtete aus der Ukraine und hat schon für Schlagzeilen gesorgt. Um ukrainische Flüchtlingsfamilien schnell unterzubringen, bezahlt das Jobcenter gegebenenfalls auch gehobenen und teureren Wohnraum. Das gilt auch für einheimische Leistungsbezieher, die umziehen mussten. Böwe erklärt, diese pragmatische Regelung sei getroffen worden, damit Menschen nicht auf der Straße landeten. Hintergrund sei der angespannte Wohnungsmarkt und Mangel an preiswertem Wohnraum in vielen Regionen Deutschlands. Da müsse die Politik handeln – beim Wohnungsbau, bei Mietpreisbremsen, bei Mietrecht und Mietspiegel. Die Angemessenheitsregel müsse künftig besser an den Wohnungsmarkt angepasst werden.

Empörte Leser kritisierten zudem, dass Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland kostenlos Zug, Bahn und Busse nutzen durften. Diese regionalen und befristeten Sonderregelungen wurden inzwischen in der Regel wieder gestoppt. Grundsätzlich gilt: Hilfebedürftigen in Deutschland geht durch die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine nichts verloren.

Bekommen Ukraine-Flüchtlinge mehr als Deutsche mit Mindestlohn oder Minirente?

Vor allem infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind die Lebenshaltungskosten stark gestiegen. Besonders Energie hat sich verteuert, was sich auf die meisten Produkte und Dienstleistungen auswirkt. Die Inflation rollt – Löhne und Gehälter, Renten und auch die Hartz-IV-Leistungen können da kaum Schritt halten. Gerade die höheren Strom- und Heizkosten treffen Menschen mit unterdurchschnittlichen Einkommen oder Renten besonders hart, insbesondere wenn sie knapp über den Bedarfsgrenzen liegen.

Rechenbeispiel

Der Hartz-IV-Grundbedarfssatz für Alleinstehende liegt aktuell bei 449 Euro inklusive Krankenversicherung. Hinzu kommen Mietzuschuss und Heizkosten in angemessener Höhe, das ergibt etwa 900 Euro im Monat. Mindestlohnverdiener kamen zuletzt auf durchschnittlich 2.080 Euro Brutto im Monat, wovon Krankenversicherung und Wohnkosten abgehen. Da Wohnkosten bei Geringverdienern oft die Hälfte des verfügbaren Einkommens ausmachen, bleibt unter dem Strich trotz Vollzeitarbeit kaum mehr Geld im Portemonnaie als bei Hartz IV.

Das betrifft auch Menschen mit unterdurchschnittlichen Renten. Bei Frauen lag die durchschnittliche Bruttorente 2021 zum Renteneintritt bei 856 Euro, bei Männern waren es im Schnitt 1.203 Euro. Der sogenannte Standard-Eckrentner kommt nach 45 Arbeitsjahren im Schnitt auf gut 1.500 Euro. Davon gehen jedoch auch Kranken- und Pflegeversicherung ab sowie Steuern oberhalb eines Freibetrags von knapp 10.000 Euro.

Bei diesen Geringverdienern und bedürftigen Rentnerinnen und Rentnern, aber auch bei unteren mittleren Einkommen muss reagiert werden, die Bundesregierung hat erste Maßnahmen beschlossen. Die AfD und andere Rechtsaußen-Gruppierungen versuchen dennoch, mit Halbwahrheiten und Fake-News Sozialneid zu schüren und die angespannte Lage für sich auszunutzen.

Aufstockung wird oft nicht genutzt

Bei Bedürftigkeit von Menschen greift eigentlich die Grundsicherung: Wer vom Lohn oder der Rente seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann, hat Anspruch auf Aufstockungsleistungen. Betroffene können einen Zuschuss zur Miete oder andere Hartz-IV-Leistungen beim Jobcenter beziehungsweise Sozialamt beantragen. Allerdings scheuen viele Menschen diesen Schritt – aus Scham, wegen der Bürokratie oder aus Unkenntnis.

Nach VdK-Angaben haben zuletzt nur maximal 1,5 Prozent aller Haushalte in Deutschland Wohngeld beantragt. Die durchschnittliche Höhe lag Böwe zufolge bei 170 Euro. Etwa die Hälfte der Antragsteller seien Rentnerinnen und Rentner. Doch einer DIW-Studie zufolge verzichten bis zu 60 Prozent der Anspruchsberechtigten auf eine Aufstockung mit Grundsicherung im Alter.

Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat diese Verwerfungen erkannt und versucht gegenzusteuern. So steigt der Mindeststundenlohn ab 1. Oktober auf 12 Euro – das ist eine Steigerung um 20 Prozent. Das Bürgergeld löst ab 2023 die Hartz-IV-Leistungen ab – die Erhöhung des Grundbedarfssatzes auf 502 Euro entspricht einer Steigerung um etwa elf Prozent. Mit der Wohngeld-Reform soll sich die durchschnittliche Wohngeldhöhe auf 370 Euro mehr als verdoppeln und deutlich mehr Menschen sollen davon profitieren. Außerdem sollen künftig Heizung und Warmwasser berücksichtigt werden. Hinzu kommen Maßnahmen aus den Entlastungspaketen eins, zwei und drei.

Jedoch sind Vergleichsrechnungen unterschiedlicher Hartz-IV- oder dann Bürgergeld-Bedarfsgemeinschaften mit Menschen mit unterdurchschnittlichen Einkommen oder Renten schwierig. Dabei spielen Faktoren wie die Größe der Bedarfsgemeinschaft eine Rolle, regional unterschiedliche Lebenshaltungskosten sowie weitere Faktoren wie Wohneigentum, andere Einkommensquellen, eine mögliche Witwenrente oder Ersparnisse. Verschiedene bedürftige Gruppen in der Gesellschaft sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Werden Geflüchtete aus anderen Ländern benachteiligt?

Zur Kritik, dass Geflüchtete aus der Ukraine bevorzugt werden gegenüber Flüchtlingen aus anderen Krisenregionen, sagt BAMF-Sprecher Hövekenmeier, der Vergleich stimme so nicht. Es gebe international derzeit kein anderes Kriegsgebiet, in dem ein Land von einem anderen derart massiv angegriffen werde und das zugleich so nah liege, dass die vertriebenen Menschen in so kurzer Zeit und großer Zahl in die EU strömten. Die EU hat daher ihre Richtlinie zum vorübergehenden Schutz aktiviert und eine einfache sowie unbürokratische Aufnahme ermöglicht.

Bundes- und Landesbehörden räumen im Einzelfall Härten für andere Geflüchtete in Deutschland ein. So gebe es Fälle, wo sogenannte "Fehlbeleger" ihre Zimmer in Asylunterkünften räumen mussten für Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine. Das könne etwa anerkannte Asylbewerber treffen, die sich eigentlich eine eigene Wohnung suchen sollen, jedoch keine finden. Bei einer Unterbringung in einer anderen Flüchtlingsunterkunft könne das dann zu einer Verschlechterung führen und werde als Diskriminierung empfunden. Da versuche man schnell zu helfen.

Pro Asyl fordert Hartz-IV-Satz für alle Asylsuchenden

Die Hilfsorganisation Pro Asyl sieht noch andere Ungerechtigkeiten. Juristin Wiebke Judith kritisierte bei MDR AKTUELL die Unterscheidung zwischen dem geringeren Asylgeld bzw. Sachleistungen für alleinstehende Asylbewerber (367 Euro) im Vergleich zu anerkannten Fällen mit Hartz-IV-Satz (449 Euro). Hartz-IV-Leistungen als definiertes Existenzminimum müssten für alle Menschen in Deutschland gelten.

Judith kritisiert zudem die Praxis der Leistungskürzung für viele Asylbewerber in Sammelunterkünften um zehn Prozent. Begründet wird das mit einem gemeinsamen Haushalt, der günstiger sei. Doch viele dieser Menschen lebten nicht zusammen wie Ehepartner, wendet Judith ein, sondern notgedrungen in Gemeinschaft. Das werde auch in der Rechtsprechung überwiegend für verfassungswidrig gehalten, sei aber noch nicht endgültig entschieden.

Die Steuerzahler zahlen alle Leistungen für Ukraine-Flüchtlinge

Die Asylbewerberleistungen 2020 in Deutschland, also vor dem Ukraine-Krieg, betrugen laut Statistischem Bundesamt etwa 4,2 Milliarden Euro für knapp 384.000 Menschen; hier Zahlen für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Ende August waren in Deutschland etwa eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine erfasst, darunter die meisten Frauen und Kinder.

Die Kosten für die Grundsicherung der Kriegsflüchtlinge trägt der Bund. Umstritten ist der Anteil von Ländern und Kommunen an den Unterkunftskosten. Viele Kommunen fordern mehr Hilfe vom Land und vom Bund, die Kommunalverbände schlagen Alarm. Ein Bund-Länder-Kompromiss brachte als Ergebnis, dass der Bund den Großteil der Kosten übernehmen will. Er stellte pauschal zwei Milliarden Euro für dieses Jahr bereit.

Hilfen der EU für die Aufnahme von Geflüchteten
Der Bund muss nicht alles aus dem Bundeshaushalt und damit über Steuereinnahmen finanzieren. Die EU hat einen Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds in Höhe von knapp zehn Milliarden Euro für die Jahre 2021 bis 2027 aufgelegt. Damit soll den Staaten auch ein gerechter Anteil für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden gezahlt werden. Aus diesem Fonds fließen sofort 3,4 Milliarden Euro an Länder, die Menschen aus der Ukraine nach ihrer Flucht vor dem russischen Angriffskrieg aufgenommen haben.

Brüssel stellt über verschiedene Programme Geld für die Mitgliedsstaaten bereit, von denen auch Deutschland profitiert. Ein wichtiges Instrument ist der milliardenschwere Fonds REACT-EU zur Wirtschaftshilfe im Kampf gegen die Corona-Krise, der von den Staaten aber auch bei anderen Krisenlagen genutzt werden kann. Dazu kommen noch Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds ESF+, dem wichtigsten Förderinstrument der EU für Beschäftigungs-, Sozial- und Bildungspolitik. Viele vom ESF finanzierte Projekte stehen auch Migranten und Flüchtlingen offen.

Die Diskussion um den "Zahlmeister" Deutschland, bei dem sich andere EU-Staaten bedienen, ist alt. Daten belegen, dass die Gewinne deutscher Unternehmen im Binnenmarkt die Beiträge zum EU-Haushalt um ein Vielfaches übersteigen – nach EU-Zahlen für 2019 um das Sechsfache. Auch die Strukturhilfen für schwächere Regionen Europas schaffen Kaufkraft für deutsche Produkte und Dienstleistungen.

BAMF-Sprecher Hövekenmeier bekräftigt in dem Zusammenhang Einschätzungen von vielen Experten, wonach Deutschland auf Einwanderung angewiesen sei. Deutschland brauche Arbeitskräfte, viele Geflüchtete aus der Ukraine seien qualifiziert. Die Bundesrepublik könne am Ende auch davon profitieren, wenn Geflüchtete hier bleiben und arbeiten wollten.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 23. September 2022 | 16:00 Uhr

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