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Jahresrückblick 2022Abschied vom Frieden

20. Dezember 2022, 10:24 Uhr

Was hätte 2022 für ein Jahr werden können! Endlich schien Corona seinen Schrecken verloren zu haben. Trotz der neuen Corona-Virusvariante Omikron schien der Weg zurück zur Normalität weit offen zu sein. Eine neue Regierung unter Olaf Scholz wollte sich nach 16 Jahren Merkel aufmachen, das Land zu modernisieren. Doch es kam alles ganz anders.

Am 24. Februar 2022 kehrte der Krieg nach Europa zurück. Nach dem Ende des Jugoslawien-Kriegs hatten fast drei Jahrzehnte die Waffen auf dem Kontinent geschwiegen. Wir hatten uns in Sicherheit geglaubt, in einem ewigen Frieden. Die wachsende Bedrohung der Ukraine durch die russischen Truppenkonzentrationen zu Beginn des Jahres wurde als übliches Muskelspiel Wladimir Putins abgetan. "Meinst du, die Russen wollen Krieg", diese Zeile aus dem Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko wurde in den sieben Wochen zwischen Neujahr und Beginn der Aggression oft gestellt und nicht selten verneint im Vertrauen auf einen Erfolg der diplomatischen Missionen von Macron oder Scholz bei Putin in Moskau. Doch der lange Tisch für die Treffen im Kreml symbolisierte, wie weit sich der russische Präsident Putin vom Rest des Kontinents längst entfernt und entfremdet hatte. Und doch hofften wir auf eine friedliche Lösung. Es war doch noch immer gut gegangen. Aber wir hatten uns getäuscht. Nicht die Russen, Putin wollte Krieg!

Mit Russlands Aggression kehrt der Krieg nach Europa zurück

Der östliche Rand Europas wurde zu einem Schlachtfeld. Bilder von zerstörten Häusern, von Menschen zwischen Trümmen, von vielen sinnlosen Toten, von Soldaten in schlammigen Schützengräben und dämmrigen Bunkern, von langen Schlangen der Geflüchteten aus der Ukraine an den Grenzen zu den Nachbarländern. Nach dem 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Weltkriege in Europa, verlor nun auch das 21. Jahrhundert in Europa seine Unschuld. Krieg war wieder Realität auf dem Kontinent.

Zeitenwende war das Wort der ersten Tage und Wochen und letztlich auch das "Wort des Jahres". Waffenhilfe für die Ukraine, also in ein Kriegsgebiet. Bisher ein Tabu. Nun wird es gebrochen. Viele rücken zusammen für eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge aus Solidarität. Wir stellen unsere eigene Verteidigungsfähigkeit auf den Prüfstand. 100 Milliarden Euro sollen aus dem Ersatzteillager Bundeswehr wieder eine schlagkräftige Verteidigungsarmee für den nun denkbaren Ernstfall machen. Die Europäische Union will mit harten Sanktionen den russischen Herrscher zum Aufgeben und Rückzug zwingen. Er antwortet mit einem Ende der Lieferungen von billigem Gas. Eröffnet ist damit eine Art zweite Front zwischen der EU und Russland als Unterstützung der Ukraine. Wir befinden uns in einem Wirtschaftskrieg.

Ampelkoalition überfordert von Krieg und Krise

Die Regierung kann das Versprechen nicht halten, dass uns selbst die Sanktionen nicht schaden werden. Preise für Benzin und Gas, Lebensmittel, technische Güter oder Handwerkerleistungen explodieren – die Inflation galoppiert durch die deutschen Haushalte und steigt seit Jahrzehnten wieder über zehn Prozent. Die Ampel-Regierung versucht mit Hilfspaketen gegenzuhalten, erst zögernd, dann nach langen Querelen mit einem sogenannten "Doppel-Wumms". Hier und da werden soziale Gruppen, wie Rentner oder Studenten, erst vergessen und dann auf später vertröstet. Trotz eines möglichen Energiemangels leistet sich die Koalition ideologische Debatten über die Festschreibung des Atomausstiegs im Frühjahr des nächsten Jahres, obwohl Blackouts nicht ausgeschlossen werden können und jede Kilowattstunde Strom gebraucht wird.

Man hält an der Schuldenbremse fest über den Taschenspielertrick, neue Schulden von hunderten Milliardenhilfen für Bundeswehr und Gas- sowie Strompreisbremsen nun Sondervermögen zu nennen. Es bleibt der Eindruck, dass die Koalition nie wirklich auf Ballhöhe der Krise ist. Oft regiert einfach das Prinzip Hoffnung auf einen milden Winter.

Soziale Unsicherheit und Zweifel an der Demokratie wachsen

Das führt zu immer mehr Unsicherheit, ja auch Angst unter den Bürgern.  Allerdings wird der von Linkspartei und AfD ausgerufene "heiße Herbst" nur lauwarm. Viele haben einfach zu sehr mit dem Bezahlen der neuen Belastungen und dem Finden der billigsten Preise zu tun statt auf die Straße zu gehen.  Dafür zeigen Umfragen, dass das Vertrauen in die Demokratie weiter sinkt. Nicht nur in Ost, sondern auch in West.

Die Ein-Jahres-Bilanz des Wählers für die Ampel ist desaströs. Wenn jetzt Wahlen wären, würde es für das Dreierbündnis nicht mehr reichen. Auch weil die Menschen genervt sind vom ständigen Streit zwischen Rot, Gelb und Grün. Offenbar selbst in der Krise wächst nicht zusammen, was politisch nicht zusammengehört.

Zwiespältige deutsche Politik auf internationalem Parkett

Obwohl dieses Jahr viele Defizite und eine mangelnde Krisenfestigkeit Deutschlands offengelegt hat, sind wir immer noch vorn dran, anderen Ländern den erhobenen Zeigefinger zu zeigen. Nicht selten gerät das dann wie im Fall von China oder zuletzt Katar zu einer Doppelmoral, die ihresgleichen sucht.

Da werden Menschenrechtsverletzungen in den Ländern zurecht angeprangert, aber gleichzeitig gute Geschäfte gemacht. Noch nie wurde so viel in China investiert wie in diesem Jahr. Selbst das wenige Gas aus Katar, das erst ab 2026 geliefert wird, brauchen wir dringend, um hier die Versorgung zu sichern. Wahrscheinlich glauben einige im Berliner Regierungsviertel, dass wir trotz des frühen und blamablen Ausscheidens der deutschen Nationalmannschaft durch das Theater um die One-Love-Binde die moralischen Weltmeister wären. Dafür hätten wir gar nicht erst hinfahren und auch nicht den Gas-Deal machen dürfen. So ist es einfach nur lächerlich.

Queen Elisabeth und Michail Gorbatschow – zwei die Geschichte schrieben

Am Ende sei noch an zwei Persönlichkeiten erinnert, die in diesem Jahr gestorben sind und das vergangene Zeitalter geprägt haben. Queen Elisabeth war nicht nur ein Vorbild für Pflichtbewusstsein. Ihr Leben und Wirken reichte vom Zerfall des britischen Empires in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, über die Europäische Einigung, zunächst nur in Westeuropa und nach dem Mauerfall von ganz Europa, bis hin zum leidigen Brexit. Selbst in stürmischen Zeit gab sie ihrem Königreich Halt, ohne selbst wirklich Macht zu besitzen. Mit ihrem Tod wurde nicht nur in der britischen, sondern auch in der Weltgeschichte eine Ära zu Grabe getragen. Der Name Michail Gorbatschow ist mit dem friedlichen Ende des Kalten Krieges und dem Mauerfall. Ohne ihn hätten wir Ostdeutschen nicht die Freiheit und Einheit gewonnen. Gorbatschows Wirken gab der Hoffnung Nahrung, dass Geschichte gut ausgehen kann ohne Krieg, Gewalt und Zerstörung.

Dieser Glaube wurde am 24. Februar 2022 zerstört. Wir mussten Abschied nehmen vom Frieden.

Über den AutorTim Herden, Jahrgang 1965, ist beim MDR seit 1992. Bis November 2022 war er Hauptstadtkorrespondent für MDR AKTUELL und schrieb in dieser Funktion über viele Jahre die politische Kolumne "Unter der Lupe" sowie Kommentare und Analysen über die Bundespolitik. Mittlerweile ist er Direktor des MDR-Landesfunkhauses Sachsen-Anhalt.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 31. Dezember 2022 | 06:00 Uhr

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