Unter der Lupe | Kolumne Scholz muss wieder die Bazooka rausholen

28. August 2022, 11:21 Uhr

Bei der Gasumlage gibt es Mitnahmeeffekte. Bei der Energiepauschale hat man die Rentner und Studenten vergessen. Wann das dritte Entlastungspaket kommt, ist unklar. Gleichzeitig steigt die Verunsicherung durch horrende Bescheide über die Gaskosten und die Inflation. Wenn die Regierung nicht handelt, trägt sie Mitschuld an Protesten, meint MDR-Hauptstadtkorrespondent Tim Herden.

Das Problem mit der Gasumlage ist nicht nur eine Panne. Es ist ein Desaster. Bei den Gaskunden flattern die Ankündigungen der Abgabe ins Haus und zugleich gibt es den Verdacht, dass einige Gasversorger daran gut verdienen werden, weil sie die Gasumlage gar nicht bräuchten. Sie stehen gut da trotz der Gaskrise.

Gasumlage ist handwerklich schlecht gemacht

Offensichtlich hat im Wirtschaftsministerium niemand die Bilanzen oder Geschäfts- und Quartalsberichte der Unternehmen geprüft. Sonst hätten die Beamten leicht feststellen können, dass es nicht allen Gasversorgern schlecht geht. Stattdessen wurde mit der Umlage das Prinzip Gießkanne in Kraft gesetzt, und man kann es nun auch wahrscheinlich nicht mehr stoppen. Das wirft einen langen Schatten auf Robert Habeck, den Umfragekönig der Ampel. Er ist für diesen gravierenden Fehler verantwortlich. Da helfen auch keine Stellungsnahmen mit zerknirschter Miene.

Die Frage überhaupt ist: Warum müssen eigentlich die Gaskunden die Unternehmen retten? Warum tut es nicht der Staat? So wie in der Corona-Krise. Damals wurden Lufthansa und der Reisekonzern TUI als systemrelevante Wirtschaftsunternehmen durch den Einstieg des Staats vor dem Ruin bewahrt.

Warum tut man das jetzt nicht auch bei den Gasversorgern? Sind diese Unternehmen nicht systemrelevant? Oder hat Habeck auf der Umlage beharrt, um die Bürger noch mehr zum Energie-Sparen zu zwingen? Dafür soziale Not von den betroffenen Gaskunden in Kauf zu nehmen, wie sie jetzt schon zu erleben ist, wäre nicht vertretbar.

Regierung könnte Proteste herbeiregieren

Solche handwerklichen Fehler führen nicht nur zu mehr Verunsicherung, sondern auch der Frust. Man kann einen "heißen Herbst" auch herbeiregieren. Und es ist nicht der einzige Fehler. So wiederholt der Kanzler immer wieder gern sein Mantra, "You'll never walk alone", nur klingt es für viele Rentner wie Hohn. Das bekam er auch beim Magdeburger Bürgerdialog zu spüren. Seine Erklärversuche, warum Rentner nicht die 300 Euro Energiepauschale bekommen wie die steuerpflichtig Beschäftigten, konnten nicht überzeugen.

Zuvor hatte schon Bundesfinanzminister Christian Lindner die Missstimmung vertieft mit dem unklugen Hinweis, es hätte ja eine deutliche Rentenerhöhung im Juli gegeben. Die stand aber den Rentnern zu. Sie holt gesetzlich geregelt nur die Lohnentwicklung des letzten Jahres für die Altersbezüge nach.

Aber Rentner wie auch Studenten, die ebenfalls bei der Energiepauschale vergessen wurden, müssen mit den höheren Energiepreisen klarkommen. Zudem sind die meisten Rentner mittlerweile auch Steuerzahler. Scholz versuchte sie auf das dritte Entlastungspaket zu vertrösten, weil ihm wohl selbst klar ist, dass hier falsche Entscheidungen getroffen wurden.

Mit Maßnahmen aus der Pandemie schnelle Entlastung erreichen

Das dritte Paket wird seit Wochen angekündigt. Möglicherweise könnte nächste Woche bei der Kabinettsklausur in Meseberg der Schleier gelüftet werden. Selbst wenn dann für die verschiedenen sozialen Gruppen Entlastungen beschlossen werden, wird es noch Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis die Bürger Geld in die Hand bekommen, um damit horrende Gasrechnungen oder gestiegene Preise im Supermarkt zu bezahlen.

Verschärft wird die Lage noch durch den Wegfall von Tank-Rabatt und 9-Euro-Ticket zum 1. September. Beides wird die Inflation weiter antreiben, möglicherweise über zehn Prozent. So kann es nicht gehen. Besser wären schnelle und unbürokratische Entlastungen für Bürger und Unternehmen.

Vor zweieinhalb Jahren, in der Anfangszeit der Corona-Pandemie, einer Zeit der Ungewissheit, holte Olaf Scholz als Finanzminister die "Bazooka" raus, pfiff auf die Schuldenbremse und kämpfte mit hunderten Milliarden Euro gegen die Auswirkungen der Krise durch die Pandemie. So wurden Unternehmen und Arbeitsplätze gerettet, mit einer Mehrwertsteuersenkung der Konsum gestärkt.

Warum tut er es nicht jetzt wieder? Kann sich Scholz nicht gegen seinen Finanzminister Christian Lindner durchsetzen? Der erklärt trotz Rezessionsgefahr die Schuldenbremse ab 2023 zum Dogma wie so vieles aus der FDP-Programmatik. Es wäre wirtschafts- und sozialpolitischer Wahnsinn, so mehr oder weniger gegen die Krise anzusparen.

Ampel muss handeln, statt zu streiten

Diese Krise erlaubt keine parteipolitischen Profilneurosen. Die Ampel aus SPD, Grünen und FDP ist vor einem Jahr angetreten als Fortschrittskoalition, tritt aber genau jetzt, in dieser schwierigen Situation, auf der Stelle. Sie macht unnötige Stockfehler wie mit der Gasumlage oder der Energiepauschale, lässt die Bürger durch Abwarten und Debattieren im Stich. Das schafft gefährlich viel Raum für Interessensgruppen und Verbände, soziale Gruppen gegeneinander auszuspielen, dabei immer öfter Einkommensschwache gegen die Mittelschicht.

So droht der Kitt einer Gesellschaft verloren zu gehen, die schon durch die Jahre der Corona-Pandemie starken Belastungen ausgesetzt ist. Zudem könnte die Zustimmung zu den Russland-Sanktionen und der Unterstützung für die Ukraine abnehmen. Deshalb müssen der Kanzler und seine Regierung auch beweisen, dass sie zu entschiedenem Handeln fähig sind. Scholz muss wieder die "Bazooka" rausholen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 26. August 2022 | 12:00 Uhr

Mehr aus Politik

Mehr aus Deutschland

Das Gelände der Westsächsischen Entsorgungs- und Verwertungsgesellschaft von oben. 1 min
Bildrechte: MDR/Tim Schulz
1 min 25.04.2024 | 21:13 Uhr

Was aus Biomüll gemacht werden kann, zeigt eine Anlage südlich von Leipzig. Auf der Zentraldeponie Cröbern entsteht aus Biomüll neben Komposterde grüner Strom für 3.000 Menschen.

Mi 13.09.2023 11:15Uhr 01:00 min

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/wirtschaft/video-biogas-strom-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Nachrichten

Verpixelte Gesichter: Polizisten verstauen Kisten und Säcke in einem Transporter hinter einem Supermarkt. 1 min
Nach Angaben der Polizei waren die Päckchen in Bananenkisten versteckt – eine im Drogenmillieu gern genutzte Tarnung. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
1 min 25.04.2024 | 20:38 Uhr

In mehreren Supermärkten in Berlin und Brandenburg sind Pakete mit Kokain entdeckt worden. Nach Angaben der Polizei waren die Päckchen in Bananenkisten versteckt – eine im Drogenmilieu gern genutzte Tarnung.

Do 25.04.2024 20:16Uhr 00:25 min

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/video-brandenburg-berlin-supermarkt-drogenfund-bananen-kisten-kokain100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video