Parität Vielfalt im Parlament: Wer repräsentiert hier wen?

17. Juli 2022, 05:00 Uhr

Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes. So schlicht, so vermeintlich eindeutig formuliert es das Grundgesetz. Doch über die konkrete Bedeutung des Satzes wird derzeit immer wieder gestritten: Kann das ganze Volk repräsentiert sein, wenn die Parlamentarier im Bundestag überwiegend männlich, weiß und akademisch gebildet sind? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

Lydia Jakobi, Autorin und Reporterin
Bildrechte: MDR/Karsten Möbius

Im Mai legte die Leipziger Stadträtin Sophia Kraft ihr Mandat nieder. Das politische Ehrenamt sei nicht mit ihrer Familie vereinbar. Sophia Kraft ist Mitte 30 und Mutter zweier kleiner Kinder. Sie verließ das Stadtparlament mit einem kritischen Appell.

In unserer Demokratie sei es zwar so vorgesehen, dass alle Gesellschaftsschichten repräsentiert sein sollen: "Wenn wir uns aber hier im Saal umschauen, muss man leider erkennen, dass wir nicht annähernd unsere Stadtgesellschaft eins zu eins repräsentieren. Was fehlt, sind vor allem die Mütter mit kleinen Kindern", sagte Jakobi.

Was Repräsentation ist, ist umstritten

Doch so ist die Definition der repräsentativen Demokratie nicht per se zu verstehen. Sie bezeichnet zunächst einmal eine Herrschaftsform, bei der nicht das Volk selbst politische Entscheidungen trifft, sondern gewählte Abgeordnete. Nur: Repräsentieren sie das Volk als Ganzes oder repräsentieren sie die einzelnen Bürger mit ihren unterschiedlichen Geschlechtern, Religionen, Wurzeln oder Interessen?

Da wird es kompliziert, erklärt André Brodocz, Professor für politische Theorie an der Uni Erfurt: "In unserer Verfassungsrechtsprechung ist es interessanterweise die erste Lesart. Das Volk ist als Ganzes etwas Eigenes, eine Einheit und offensichtlich zu unterscheiden von der Summe aller Bürgerinnen und Bürger, die sich in Gruppen wiederfinden. In der Demokratietheorie ist das sehr umstritten."

Repräsentation sei entsprechend kein genuin neutrales Prinzip, sondern hänge von der politischen Interpretation und Lesart ab.

Schäuble: Repräsentation nicht mit Repräsentativität verwechseln

Wolfgang Schäuble kennt diese Debatten aus dem Bundestag. Erstmals sitzen zwei trans Personen in seinen Reihen, dazu knapp 35 Prozent Frauen - und elf Prozent der Abgeordneten habe eine Migrationsgeschichte. Richtig so, würde der frühere Bundestagspräsident sagen, aber eine gute Demokratie zeichne sich dadurch aus, dass eine Finanzpolitikerin auch die Interessen der Landwirte mitdenke.

Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird laut Schäuble eine Fülle eklatanter Abweichungen finden: "In beruflicher, regionaler, kultureller oder religiöser Hinsicht. Und er leistet dem irrigen Verständnis Vorschub, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten."

Hinzu kommt, dass politische Entscheidungen häufig entlang von Parteilinien getroffen werden. Für individuelle Hintergründe bleibt ohnehin wenig Spielraum. Wenn Abgeordnete aber frei von Fraktionsdisziplin entscheiden können, machen sich Geschlecht oder Religion durchaus bemerkbar – zeigen mehrere Studien.

Verfassungsgerichte stoppen Paritätsgesetze

Der Politikwissenschaftler Brodocz wünscht sich deshalb eine Debatte über die Frage, wer wen repräsentiert: "Ich würde tatsächlich sagen, man braucht einen starken öffentlichen Diskurs darüber, inwiefern unser Grundgesetz tatsächlich ein bestimmtes Repräsentationsprinzip vorschreibt oder nicht. Im Wortlaut tut es das meines Erachtens nicht."

Die Verfassungsgerichte hingegen sehen das anders: Sie hatten zuletzt die Paritätsgesetze Thüringens und Brandenburgs gestoppt. Die Begründung: Man müsse nicht die Gesellschaft nachbilden. Die Abgeordneten seien Vertreter des ganzen Volkes.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. Juli 2022 | 06:10 Uhr

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