Bei einer Razzia gegen sogenannte «Reichsbürger» sitzt ein vermummter Polizist, nach der Durchsuchung eines Hauses, mit dem festgenommenen Heinrich XIII Prinz Reuß (r) in einem Polizeifahrzeug.
Heinrich XIII. Prinz Reuß steht unter anderem wegen Hochverrats vor dem Oberlandsgericht Frankfurt am Main. Bildrechte: picture alliance/dpa | Boris Roessler

Reichsbürger "Deep State" vs. "Allianz": Welche Rolle Verschwörungserzählungen im Reuß-Prozess spielen

21. Mai 2024, 06:18 Uhr

Am heutigen Dienstag beginnt in Frankfurt der Prozess um Heinrich Reuß. Nach Recherchen von MDR Investigativ spielen dabei Verschwörungsnarrative eine zentrale Rolle. Einer der Anwälte zieht deswegen die gesamte Anklage in Zweifel.

Sie sollen einen bewaffneten Angriff auf den Bundestag und einen Umsturz geplant haben. Deswegen stehen ab Dienstag neun mutmaßliche Verschwörer um Heinrich XIII. Prinz Reuß vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Die Bundesanwaltschaft wirft der Gruppierung Hochverrat sowie die Gründung einer terroristischen Vereinigung vor. Reuß ist - neben dem ehemaligen Offizier der Bundeswehr Rüdiger von P. - als Rädelsführer angeklagt.

Insgesamt müssen sich 26 Männer und Frauen vor Gericht verantworten. Darunter mehrere ehemalige Soldaten und Polizisten sowie eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete. Wegen der hohen Anzahl an Angeklagten, findet das Strafverfahren parallel an drei Gerichtsstandorten statt. Ein Prozess in Stuttgart hat bereits begonnen. Ein dritter soll in München starten.

Reuß lebt in Frankfurt am Main und ist dort als Immobilienhändler tätig. In Thüringen ist er bekannt, weil er dort jahrelang hartnäckig und meist vergeblich versucht hatte, Gebäude und Ländereien aus dem Eigentum seiner einst adligen Familie zurückzubekommen. Reuß war zudem vor allem im Saale-Orla-Kreis als Reichsbürger aufgetreten. In diesem Milieu wird das Verschwörungsnarrativ vertreten, wonach ehemalige Gebiete des Deutschen Kaiserreichs durch Schein-Wahlen reaktiviert werden könnten. Recherchen von MDR Investigativ zeigen: In dem vermutlich langwierigen Gerichtsverfahren spielen Verschwörungserzählungen eine zentrale Rolle.

Ein Angeklagter wird in Stuttgart-Stammheim beim Beginn eines Prozesses um Reichsbürger, die mutmaßlich einen Umsturz in Deutschland geplant haben sollen, in den Gerichtssaal geführt.  1 min
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Angeklagte von QAnon-Verschwörungserzählungen überzeugt

Die angeblich entführten Kinder machten den mutmaßlichen Verschwörern um Heinrich Reuß große Sorgen. So geht es aus der 700-seitigen Anklageschrift der Bundesanwaltschaft hervor, die MDR Investigativ vorliegt. Die Kinder stehen im Mittelpunkt der QAnon-Verschwörungserzählung, der zufolge ein elitärer, satanischer und pädophiler Machtapparat, genannt "Deep State", im Geheimen eine diktatorische "Neue Weltordnung" anstreben soll.

Angeblich soll diese Elite versteckte Untergrund-Einrichtungen, sogenannte "Deep underground military bases", betreiben. Darin sollen Kinder rituell missbraucht und getötet werden. Aus ihren Körpern soll das angeblich verjüngende Elixier "Adrenochrom" gewonnen werden.

Reuß und die anderen Angeklagten waren laut Bundesanwaltschaft fest von der Richtigkeit dieser Behauptungen überzeugt. Die QAnon-Erzählung war tief in ihrem Denken und Tun verankert und prägte die Putsch-Pläne maßgeblich. Einige der Angeklagten führten den QAnon-Wahlspruch in ihren Social-Media-Profilen, andere posteten Audio-Dateien mit Titeln wie "Der Q-Plan" oder diskutierten - so wie Reuß - intensiv in Chats über das QAnon-Thema.

Je katastrophaler für viele die eigene Lebenssituation ist, desto mehr bieten solche Verschwörungsnarrative vermeintliche Erklärungen an, die dann sehr schnell auf fruchtbaren Boden fallen.

Stephan Kramer Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes

Laut Bundesamt für Verfassungsschutz ist die QAnon-Erzählung weltweit am weitesten in den USA sowie im deutschsprachigen Raum verbreitet. Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, sieht Verschwörungserzählungen sehr kritisch, weil sie Menschen dazu brächten sich "angesichts von Bedrohungsszenarien und Existenzängsten durch Pandemie oder Krieg in eine Parallelwelt" zu flüchten. "Je katastrophaler für viele die eigene Lebenssituation ist", sagt Kramer, "desto mehr bieten solche Verschwörungsnarrative vermeintliche Erklärungen an, die dann sehr schnell auf fruchtbaren Boden fallen".

Stephan Kramer spricht bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2020.
Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes Stephan Kramer warnt davor, die Aktivitäten der Gruppe Reuß als Spinnerei abzutun. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bodo Schackow

Dass die Gruppe Reuß fest in der QAnon-Gedankenwelt verstrickt gewesen sein soll, überrasche den Verfassungsschützer nicht: "Diese Narrative werden seit Jahren gebetsmühlenartig vorgetragen und inzwischen sehen wir quasi die ersten Blüten dieser Saat."

"Deep-State" vs. "Allianz": Anhänger glauben an zusammenfantasierten Untergrundkrieg

Für die QAnon-Anhängerinnen und -Anhänger um Heinrich Reuß und Rüdiger von P. spielte die Bekämpfung der angeblichen "Deep State"-Elite sowie die Befreiung der von ihr angeblich entführten Kinder zwar eine bedeutende Rolle. Noch maßgeblicher allerdings war für die Gruppe ein weiterer angeblicher Geheimbund aus der zusammenfantasierten QAnon-Welt: die sogenannte "Allianz", der angebliche Gegenspieler der "Deep State"-Elite.

Bei der angeblichen "Allianz" soll es sich ebenfalls um einem internationalen Verbund aus Geheimdiensten, Militärs, Verwaltungen, Einzelpersonen und Regierungen mehrerer Staaten handeln. Donald Trump soll dazu gehören und Russland. Dieser Zusammenschluss soll im Verborgenen gegen den "Deep State" kämpfen, um ihn zu vernichten. Die Annahme, dass es diesen Fantasie-Untergrund-Krieg wirklich gibt, prägte das Handeln der mutmaßlichen Terroristen stark. Davon ist die Bundesanwaltschaft laut Anklageschrift fest überzeugt. Eine besondere Rolle soll dabei Marco van H. gespielt haben.

Gruppe soll Morde und Verhaftungen am "Tag X" geplant haben

Van H. steht in Stuttgart vor Gericht und behauptete in Kontakt mit der "Allianz" zu stehen. Zudem gab er vor, das erwartete Start-Signal zum Erscheinen des angeblichen Gehheimbundes erkennen zu können. Die Anderen glaubten van H. und rechneten mit einem baldigen Angriff der "Allianz". Nach Vorstellung der Gruppe Reuß würde der internationale Geheimbund zunächst die staatlichen Institutionen der Bundesrepublik zerstören, woran sie sich die Reuß-Leute beteiligen wollten. Laut Generalbundesanwalt planten sie, dafür landesweit knapp 270 paramilitärische "Heimatschutzkompanien" zu aktivieren, um "Aufräumarbeiten" und "Säuberungen" durchzuführen.

Den mutmaßlichen Verschwörern soll klar gewesen sein, dass dabei Menschen getötet worden wären. Exekutions-Listen sollen sie angelegt haben mit Namen von Parlamentariern, Bürgermeistern, Landräten, Polizisten, Richtern, Gerichtvollziehern und Amtsärzten. Solche Personen sollten am "Tag X", wenn der Umsturz beginnt, zumindest festgenommen oder umgebracht werden. Bei verschiedenen Mitgliedern wurden insgesamt 382 Schuss- sowie 347 Hieb- und Stichwaffen sowie 148.000 Munitionsteile gefunden.

Tod der Queen als "Startsignal"

Wie fest die mutmaßlichen Terroristen an einen baldigen "Tag X" geglaubt haben, zeigte sich nach Informationen von MDR Investigativ deutlich im September und Oktober 2022 - wenige Wochen vor der bundesweiten Groß-Razzia, bei der die meisten Angeklagten verhaftet wurden. Als in dieser Zeit die englische Königin Elisabeth II. starb, deutete dies Marco van H. als Startsignal für den Angriff der "Allianz". Für diesen Fall soll die Führungsriege um Reuß und Rüdiger von P. vereinbart haben, sich in einer Wohnung in Neustetten im Landkreis Tübingen zu versammeln. Die Wohnung gehörte dem in Stuttgart angeklagten Andreas M. und wurde Hauptquartier oder Gefechtsstand genannt.

Ursprünglich sollten Kasernen der Bundeswehr als "Hauptquartier" genutzt werden. Darauf angesprochene Offiziere sollen dies beim Militärischen Abschirmdienst, dem Geheimdienst der Bundeswehr, gemeldet haben. Weil es mit den Kasernen nicht klappte, versammelte sich - unmittelbar nach dem Tod der Queen - ein knappes Dutzend Männer und Frauen, die Führungsriege der Verschwörer-Gruppe, in Andreas M.s Wohnung in Neustetten. Mehrere lange Tage sollen sie dort ausgeharrt und auf den Angriff der "Allianz" gewartet haben, der nach ihrer Vorstellung mit einem flächendenkenden Stromausfall hätte beginnen sollen.

Anwalt zieht Anklage in Zweifel

Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes Stephan Kramer warnt davor, die Aktivitäten der Gruppe Reuß als Spinnerei abzutun. Über deren mutmaßliche Gefährlichkeit sagt Kramer: "Natürlich sind wir uns im Klaren, dass Prinz Reuß und seine Truppen, selbst wenn es ihnen gelungen wäre mit Waffengewalt in den Bundestag einzudringen und ihre Pläne umzusetzen, die Bundesrepublik Deutschland nicht zum Zusammenbruch geführt hätten. Aber es hätte mit Sicherheit viele Verletzte und Tote gegeben." Deswegen gäbe es "überhaupt keinen Grund, diese Gruppierung lächerlich zu machen oder herunterzuspielen".

Es gibt überhaupt keinen Grund, diese Gruppierung lächerlich zu machen oder herunterzuspielen.

Stephan Kramer Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes

Eine Auffassung, der einer der Anwälte von Heinrich Reuß vehement widerspricht. Auf Anfrage teilte der Frankfurter Strafverteidiger Hans Sieg mit: "Es gab keine Pläne meines Mandanten und auch die angeblichen Pläne der übrigen Verfahrensbeteiligten hatten zur Voraussetzung, dass die sogenannte Allianz hier in Deutschland einen Umsturz herbeiführen würde. Da es diesen aber nicht geben konnte und gab, war es auch komplett ausgeschlossen, dass es irgendwann und irgendwie zu Toten und Verletzten kommen könnte." Der Strafverteidiger argumentiert mit der "unbezweifelbaren Nichtexistenz der Allianz" und meint damit: Wenn es keine "Allianz" gibt, ist die gesamte Anklage unbegründet.

Hohe Rechnung für Verschwörungs-Glaube

Wie teuer einigen der mutmaßlichen Terroristen ihr Glaube an die QAnon-Erzählung bereits jetzt zu stehen gekommen ist, zeigt das Beispiel der gesondert verfolgten Zwillingsbrüder Sandro und Claudio R. aus der Schweiz. Laut Bundesanwaltschaft traf sich die Gruppe Reuß mit den beiden erstmals im November 2021 in einem Hotel im oberfränkischen Helmbrechts.

Die Reuß-Leute sollen bei den Zwillingen illegal Waffen und Ausrüstungsgegenstände für den mutmaßlich geplanten Angriff auf den Bundestag bestellt haben. Darüber hinaus sollen die Brüder aus der Schweiz beauftragt worden sein, Eingänge zu den angeblichen "Deep underground military bases" der "Deep State"-Elite zu finden, um dort die angeblich entführten Kinder zu befreien.

Sandro und Claudio R. sollen weder Waffen geliefert noch irgendwelche Eingänge gefunden haben. Laut den Ermittlern sollen sie nicht einmal begonnen haben, danach zu suchen. Dafür sollen die Zwillingsbrüder im Lauf des Jahres 2022 immer wieder hohe Geldbeträge gefordert und bekommen haben. Am Ende sollen sie die Gruppe Reuß um einen hohen sechsstelligen Betrag betrogen haben. Allgemein wird nun erwartet, dass sich der Mammut-Strafprozess an den drei Gerichtsstandorten lange hinziehen wird. Das Verfahren in München beginnt am 18. Juni.

MDR (ost)/dpa

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | THÜRINGEN JOURNAL | 21. Mai 2024 | 06:05 Uhr

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