Kritische Infrastruktur Risikoforscher fordert offeneren Umgang mit Gefahren durch Anschläge

18. Oktober 2022, 13:19 Uhr

Erst Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2, dann Stillstand bei der Deutschen Bahn nach einem Sabotageangriff: Wie verwundbar ist Deutschland bei Angriffen auf die physische und digitale Infrastruktur? Verwundbarer als je zuvor, meint Alexander Fekete, der in Köln Risiko- und Krisenmanagement lehrt. Denn je weiter entwickelt eine Gesellschaft ist, desto anfälliger sei sie. Er plädiert für einen offenen Umgang mit den Gefahren, mehr Eigenverantwortung und warnt vor falschen Erwartungen.

MDR AKTUELL: Herr Prof. Fekete, was fällt eigentlich alles unter den Begriff "kritische Infrastruktur"?

Alexander Fekete: Es gibt in Deutschland sehr viele Infrastrukturen und als kritisch werden jene bezeichnet, die besonders zu priorisieren sind, die besonders relevant sind. Man sagt auch, sie sind essenziell für die Grundversorgung. Also zum Beispiel Wasser brauchen wir jeden Tag Strom, Wärme aber auch Informationen.

Und es gibt noch andere, die der Bund als kritische Infrastrukturen auch genauso benannt hat. In diesen neun Sektoren gibt es verschiedene Branchen, ein Beispiel: Wir haben Transport und Verkehr. Das gibt es sowohl den auf den Straßen als auch auf den Flüssen und auf See und in der Luft, und daher gibt es eine ganze Reihe an Infrastrukturen, die wir jeden Tag selbstverständlich benutzen, deren große Bedeutung sich vor allem dann zeigt, wenn sie ausfallen. Wenn auf einmal kein Strom mehr da ist, erst dann merken wir oft, was eigentlich alles daran hängt und was auf einmal nicht mehr funktioniert. Wir bemerken oft auch erst dann, was davon tatsächlich teilweise lebensnotwendig oder für das Funktionieren des Alltags unerlässlich wäre.

Wer kümmert sich in Deutschland darum? Wie viel gehört der öffentlichen Hand und für welchen Anteil ist die Wirtschaft zuständig?

Seit Jahren kursieren da grobe Angaben, dass etwa 80 Prozent der Infrastruktur in Deutschland in privater Hand sind. Die öffentliche Hand ist daher nur begrenzt zuständig. Daher gibt es nur wenige Akteure, die sich von staatlicher Seite anfangs mit dem Thema befasst haben. Dabei gibt es innerhalb des Bundesministeriums des Innern Behörden wie das Bundesamt für Sicherheit Informationstechnik, das für die Cybersicherheit zuständig ist und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, das für den Katastrophen- und Zivilschutz zuständig ist.

Das klingt nach einem blinden Fleck.

Das kann ich verstehen. Aber die Infrastruktur ist ja seit vielen Jahren auch in guten Händen in der privaten Wirtschaft. Wenn man sich die Energieversorgung oder die Wasserversorgung grundsätzlich anschaut, dann haben wir in Deutschland das mit höchste Versorgungsniveau und die höchste Sicherheit überhaupt. Wir haben zum Beispiel sehr geringe Stromausfälle: Wir haben einen Durchschnitt im Jahr von etwa 15 Minuten. Im Alltag funktioniert das überwiegend auch mit den kleineren Störungen oft so geräuschlos, dass man gar nichts mitbekommt.

Wenn die kritische Infrastruktur ausfällt, dann spürt das die Bevölkerung oft unmittelbar. Wie verwundbar sind wir: Sind wir da gut aufgestellt, oder gibt es Lücken? Und wenn ja, wo?

Das ist ein sehr wichtiges Thema, nämlich die Frage der sogenannten Verwundbarkeit oder Anfälligkeit der Bevölkerung. Zwar habe ich zuvor betont, dass wir uns in einer überwiegend sicheren Infrastruktur aufhalten und diese auch nutzen. Aber was wir weniger auf dem Schirm haben, das sind eben doch Ausfälle. Sowohl die alltäglichen, durch Baggerarbeiten, Wartungsarbeiten, Updates, aber auch gerade die extremeren Ereignisse, die uns dann vorführen – ob Sabotageakte oder Cyberangriffe auf Gesundheitseinrichtungen, Krankenhäuser oder aber auch Hochwasser, dass die Menschen sehr stark in der Fläche betroffen sein können und dann die besonders anfälligen, verwundbaren Gruppen ganz besonders.

Manchmal wird den verwundbaren Gruppen auch deutlich gesagt: 'Nein, ihr müsst euch selber kümmern'.

Prof. Alexander Fekete

Bestimmte Personengruppen sind besonders abhängig von Versorgungsleistungen, sei es von der Versorgung durch Gesundheitsdienst und Pflege, sei es durch Versorgung mit Informationen, oder durch Angehörige. Wenn wir an Strom denken, an diejenigen, die von Kühlung von Medikamenten, Öffnungszeiten von Apotheken, Aufzügen sowie elektronischen Hilfsmitteln aller Art abhängig sind, die können sich ohne andere Menschen und Betreuung und Organisationen eigentlich dann nicht lange selbst behelfen.

Da sind dann erst einmal die Kommunen in der Pflicht zu helfen. Sind sie gewappnet?

Da wird oft sehr schnell deutlich, dass es entweder an Ressourcen fehlt – der Katastrophenschutz ist seit Jahrzehnten unterfinanziert. Und er ist eben auch schwierig zu kommunizieren, weil die Menschen immer sagen – warum sollen wir dafür Geld ausgeben, wenn das nie passiert? Das wirkt nach Panikmache und dann auf der anderen Seite: Manchmal wird den verwundbaren Gruppen auch deutlich gesagt: 'Nein, ihr müsst euch selber kümmern'. Und das kommt auch nicht immer gut an, weil gerade die, die schwach sind und sich nicht selbst helfen können, auf Hilfe angewiesen sind und dieser Vorsorgegedanke dann noch schwieriger zu kommunizieren ist.

Nochmal: Sind wir gut aufgestellt? Gibt es Lücken? Und wenn ja, wo und die Frage, wie hoch ist die Gefahr von physischen oder digitalen Angriffen auf die kritische Infrastruktur?

Wenn wir vorher abschätzen wollen, was passieren kann, reden wir einerseits von Gefahren, also, was es zum Beispiel für Angriffsmöglichkeiten gibt. Was ist uns bekannt an Sabotagegruppen, aber auch an Unfallszenarien? Und was gibt es an sogenannten Naturgefahren wie Hochwasser, Waldbränden und so weiter? Naturgefahren wie Hochwasser betreffen nahezu alles und auch relativ zufällig, während man Angriffe seit vielen Jahren verzeichnet; gerade Cyberangriffe nehmen immer stärker zu.

Je weiter entwickelt wir als Gesellschaft sind mit Arbeitsteilung und perfekter Versorgung jeden Tag, desto abhängiger sind wir davon geworden, desto anfälliger sind wir.

Prof. Alexander Fekete

Da gab es aber auch lange Jahre so eine Art ja, ich will nicht sagen Scham, aber man hat das aus Geschäftsgründen verschwiegen. Und inzwischen ist immer mehr davon auch publik geworden, weil die Angriffe einfach zugenommen haben. Also das Thema ist im Prinzip bei uns sehr bekannt auf Behördenebene und bei den Unternehmen. Die arbeiten auch seit Jahren erfolgreich zusammen.

Zur Person Professor Dr. Alexander Fekete lehrt an der Technischen Hochschule Köln Risiko- und Krisenmanagement, befasst sich also mit Naturgefahren, Bevölkerungsschutz, Kritische Infrastruktur. Er koordiniert den Forschungsschwerpunkt "Bevölkerungsschutz im gesellschaftlichen Wandel, Resilienz und Verwundbarkeits-Assessments, Kritische Infrastrukturen und Bevölkerungsschutz und Risikokommunikation".

Doch es ist eine andere Frage – wie wahrscheinlich ist es jetzt, dass morgen der große Blackout kommt? Über diese Wahrscheinlichkeit kann man nur Mutmaßungen anstellen. Und weil man da nie genau weiß, was wie passieren wird, stellt man andere Fragen, nämlich: Wie verwundbar sind wir? Was könnte denn alles passieren? Und da gibt es eine sehr große, erkannte Abhängigkeit.

Es gibt ein Verwundbarkeitsparadoxon: Je weiter entwickelt wir als Gesellschaft sind mit Arbeitsteilung und perfekter Versorgung jeden Tag, desto abhängiger sind wir davon geworden, desto anfälliger sind wir. Weil wir dann selber gar nicht mehr agieren können oder auch wissen, was wir denn tun sollen, wenn auf einmal Strom, WLAN, Wasser alles andere wegbricht. Und diese Verwundbarkeit, die hat meiner Meinung nach zugenommen.

Können wir nichts gegen diese Verwundbarkeit tun, was ist denn aus Ihrer Sicht erforderlich?

Ich finde erstens wichtig, dass wir offen miteinander sprechen, dass man sich auch in Deutschland mehr traut, Probleme und Gefahren und Risiken zu kommunizieren. Im Vergleich zu vielen Nachbarländern fällt immer wieder auf, wie erstaunt die sind, wie langsam wir uns mit Risiken öffentlich beschäftigen. Wie viel Angst man hat, Themen zu platzieren, dass man auch Botschaften wie 'die Menschen sollten sich zu Hause mit Notvorräten, Lebensmitteln und Arzneimitteln versorgen', inzwischen auch offiziell zurückfährt.

Wo man sogar von Bundesministeriumsebene eher sagt, alles sollte positiver klingen, um die Menschen nicht zu verunsichern. Und wir haben eine Umgangskultur, die unbedingt verbessert werden muss. Wir müssen schonungslos sagen, morgen kann einfach dieser oder jener Angriff passieren, und dann haben wir so lange gar keinen Strom und kriegen den auch nicht beschafft. Und dann muss jeder selber überlegen, wie komme ich damit zurecht?

Was kann die Bevölkerung tun? Was kann der Einzelne tun?

Erstens offen sein, sich zu informieren. Heutzutage werden wir überflutet mit Nachrichten über Katastrophen weltweit und vor Ort, und viele Menschen fühlen sich verständlicherweise damit überfordert. Sie sagen, ja, da wird dann irgendjemand sein, die werden sich schon irgendwie kümmern. Und dass wir realisieren: Nein, das ist vielleicht die falsche Erwartung. Eine Katastrophe zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie eine Katastrophe ist, dass sie nicht vorhersehbar ist. Dass man sie nicht vermeiden kann, egal, was man alles versucht, vorzusorgen.

Nachbarländer oder auch andere Länder, die wir kennen, machen das publik. Die stellen Videos ins Internet, wie Infrastruktur zerstört werden kann, und machen dadurch plastisch deutlich, was uns passieren kann. Und die Bevölkerung kann einerseits offenbleiben, sich so etwas anzuhören und zu überlegen und eigene Schlüsse zu ziehen. Und zum anderen glaube ich, einfachste Schutzmaßnahmen, wie immer mal einen Ersatzakku haben, oder auch wirklich einen Kasten Wasser oder zwei zu Hause oder Lebensmittel einzulagern, sind sicherlich ganz einfache Maßnahmen, die keinem wirklich schaden.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 17. Oktober 2022 | 17:45 Uhr

Mehr aus Politik

Mehr aus Deutschland

Ermittler gehen in Gebäude 1 min
Großrazzia gegen Schleuser Bildrechte: MDR
1 min 17.04.2024 | 19:18 Uhr

Eine Schleuser-Bande soll in großem Stil gegen viel Geld Aufenthaltstitel verkauft haben, vor allem an Chinesen. Bei einer Großrazzia hat die Bundespolizei nun zehn Verdächtige festgenommen.

Mi 17.04.2024 19:01Uhr 00:36 min

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/video-Schleuser-Razzia-Paesse100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video