Unter der Lupe – die politische Kolumne Wo Deutschland sich selbst am Fortschritt hindert

21. August 2022, 05:00 Uhr

Gerade jetzt in der Gas- und Energiekrise zeigen sich Defizite in unserer strategischen Infrastruktur im Energie-, aber auch im Verkehrsbereich. Es fehlen Stromleitungen und Eisenbahnverbindungen. Zu lang dauern Planung und Bau von Großprojekten. Schuld sei nicht nur die Politik, sondern auch wir Bürger, meint Hauptstadtkorrespondent Tim Herden.

Wahrscheinlich in den ersten Dezemberwochen werden sich Kanzler, Wirtschaftsminister, der Ministerpräsident von Niedersachsen, wenn nicht sogar der Bundespräsident nach Wilhelmshaven aufmachen. Dort wird ein großes Schiff kommen und am ersten deutschen LNG-Terminal anlegen. Die Hände der Politiker werden an einem Ventilrad drehen und alle sich loben: So schnell sei noch nie ein Infrastrukturprojekt verwirklicht worden. Innerhalb eines halben Jahres entstanden Terminal plus 26 Kilometer Pipeline. Das ist ein Rekord für deutsche Verhältnisse.

LNG-Terminal Wilhelmshaven – ein Ausnahmeprojekt

Dass es so schnell ging, hatte auch mit Mut zu tun, einer selten gewordenen Tugend in der Politik. Man baute, obwohl immer noch Klagen von Umweltverbänden gegen das Projekt vorlagen. Das hatte sich bisher nur Elon Musk bei der Tesla-Fabrik in Grünheide getraut. Der konnte es sich mit seinen Milliarden im Rücken auch leisten, ins Risiko zu gehen. Aber der Staat?

Ich würde mir diesen Mut beim Ausbau der Infrastruktur öfter wünschen. Denn da ist der Fortschritt in Deutschland eher als Schnecke unterwegs. Damit tut man den kleinen Tieren auch Unrecht. Eigentlich sind wir noch langsamer. Egal ob bei Ausbau von Straßen- und Schienenwegen oder den erneuerbaren Energien – es geht immer nur sehr langsam voran.

So fiel mir beim Recherchieren ein Artikel zum Ausbau der Mitte-Deutschland-Bahn von Weimar nach Gößnitz von 2002 in die Hand. Der damalige und mittlerweile verstorbene Thüringer Wirtschaftsminister Franz Schuster forderte den Ausbau der Strecke und das Land investierte 18 Millionen Euro als Vorschuss. Nur ist bis heute nicht viel passiert. Die Bahnverbindung ist zwar als "vordringlicher Bedarf" in den Bundesverkehrswegeplan eingeordnet, aber auf Website der Bahn für das Bauprojekt steht: "Das Projekt befindet sich in der Vorplanungsphase." Von durchgehend zweigleisigem Ausbau ist keine Rede mehr. Jede Wette, dass auch – wie eigentlich geplant – 2030, fast drei Jahrzehnte nach Schusters Initiative, kein IC, also nicht mal ein ICE von Chemnitz ins Ruhrgebiet fährt.

Ampel will Planungsrecht reformieren, wie bereits viele Regierungen vorher

Doch nun soll alles anders werden. Wilhelmshaven ist die Blaupause für eine Reform des Planungsrechts. Am Donnerstag flatterte ein entsprechender Gesetzentwurf des Justizministeriums ins Haus – mit dem Ziel, "die Verfahrensdauer für Vorhaben mit hoher wirtschaftlicher und infrastruktureller Bedeutung zu reduzieren". Die Botschaft höre ich gern, nur fehlt mir der Glaube.

Ähnliche Formulierungen finden sich in allen Koalitionsverträgen der letzten zwei Jahrzehnte. Schwarz-Gelb versprach 2009 eine Reduzierung der Planungs- und Bauzeiten für Infrastrukturprojekte um 25 Prozent. Die Große Koalition war 2013 vorsichtiger mit dem Satz: "große öffentliche Bauvorhaben müssen in puncto Baukosten und Termintreue wieder verlässlicher werden" und blieb auch 2018 vage: "Mit Effizienzsteigerungen wollen wir die Planfeststellungs- und Genehmigungsverfahren für Schieneninfrastrukturprojekte beschleunigen." Und nun also ein neuer Versuch durch die Ampel.

Viele Berater und Experten verdienen mit

Doch meist beginnt die Verzögerung schon vor dem Planfeststellungsverfahren. Da werden Heerscharen von Beratern und Experten beschäftigt, um Machbarkeitsstudien und Kosten-Nutzen-Analysen zu erstellen. Gerade auch hier in Berlin eine gute Methode, um Projekte in die Länge zu ziehen.

So werden immer wieder neue Studien zu S-Bahn-Anschlüssen in den Speckgürtel in Auftrag gegeben. Zum Beispiel nach Falkensee. Man müsste sich aber nur morgens auf den Bahnsteig des früher kleinen und heute großen Ortes stellen, um beim Andrang in die Züge festzustellen: Da braucht es eine S-Bahn. Die gab es bereits bis 1961. Nur der Mauerbau hat sie unterbrochen. Das gilt aber auch für die alte Stammbahn von Zehlendorf nach Kleinmachnow. Zum Teil liegen sogar noch die Gleise.

Aber alles zieht sich in die Länge: Immer wieder werden Daten erhoben, Expertisen erstellt und dafür Millionen ausgegeben, die Beraterfirmen reich und den Staat sowie die Bahn arm machen. Nur sonst tut sich nichts. Hier wäre überhaupt die Frage, wenn man sich dann mal für einen Wiederaufbau und Wiederinbetriebnahme entscheiden und es nicht nur immer wieder versprechen würde, ob es überhaupt ein neues Planfeststellungsverfahren geben muss. Könnte man nicht – wie nun beim Neubau alter Eisenbahnbrücken – darauf verzichten?

Klagemöglichkeiten bremsen Infrastrukturprojekte aus

Die nächste hohe Hürde für Infrastrukturprojekte sind die Klagemöglichkeiten im Planfeststellungsverfahren. Klagen können sogar Gruppen, die gar nicht betroffen sind. So hatte gegen das Tesla-Werk in Brandenburg ein bayrischer Umweltverein geklagt. Mit welchem Recht? Mit dem deutschen Recht. Nun sollen zum einen Gerichtsverfahren gegen wichtige Infrastrukturprojekte, z.B. im Energiebereich wie bei Windkraftanlagen oder Stromtrassen, terminlich vorgezogen werden und die Gerichte das "überragende öffentliche Interesse" bei ihren Entscheidungen besonders würdigen. In den letzten Jahren gab es bei Großprojekten außerdem immer Versuche, den Widerstand vor Ort durch frühe Einbeziehung der betroffenen Bürger abzubauen oder auch gütliche Vereinbarungen zu treffen. Doch "die Hoffnung, durch eine breite Bürgerbeteiligung zu Lösungen zu kommen, hat sich nicht bewahrheitet", analysierten Anfang 2022 Christian Böttger und Wolfgang Schroeder von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.

Auch wir Bürger tragen eine Mitschuld

Allerdings sollten und müssen wir Bürger in einem Hochindustrieland akzeptieren, dass der Strom nicht aus der Steckdose, sondern über Stromleitungen ins Haus kommt. Außerdem wollen wir selbst auch gern mit der Bahn schneller und pünktlicher durch Deutschland kommen. Und um unseren Klimazielen näherzukommen, brauchen wir mehr Güter- und Personenverkehr auf der Schiene statt auf der Straße sowie mehr Windkraft. Wenn wir uns entsprechenden Projekten in den Weg stellen, werden wir unseren Wohlstand auf Dauer gefährden. Gerade jetzt zeigen sich in dieser Krisensituation bei Strom und Gas die entstandenen Defizite, weil Stromtrassen oder Schienenwege fehlen, um Energie, Kohle und Öl zu Unternehmen, Kraftwerken und Raffinerien zu bringen.

Doch da bleibt die Politik kleinmütig. Die Klagemöglichkeiten wird es auch zukünftig geben. In der Pressemitteilung des Justizministeriums heißt es: "Dabei bleibt der effektive Rechtsschutz durch die Beschleunigungsmaßnahmen vollumfänglich gewährleistet. Materiell-rechtlich wird den Klägerinnen und Klägern nichts genommen." Und somit bleibt auch die Möglichkeit, Infrastrukturmaßnahmen durch Klagen immer wieder zu verzögern. So wird der schnelle Bau und Inbetriebnahme des LNG-Terminals in Wilhelmshaven wohl eine Ausnahme bleiben. Schade eigentlich.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 21. August 2022 | 06:00 Uhr

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