Blick auf das Dorf Trüstedt bei Gardelegen
Viel Land, aber verhältnismäßig wenige Einwohner – das kennzeichnet die Altmark im Norden Sachsen-Anhalts. Deswegen ist das Gebiet schon jetzt der größte Wahlkreis Mitteldeutschlands. Das Foto zeigt das Dorf Trüstedt bei Gardelegen. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Stephan Schulz

Bevölkerungsschwund und Wahlrechtsreform Mehrere Wahlkreise in Mitteldeutschland haben zu wenig Einwohner

28. August 2022, 05:00 Uhr

Zur Bundestagswahl 2025 müssen in Mitteldeutschland voraussichtlich die Grenzen von mindestens drei Wahlkreisen verschoben werden. Außerdem verlieren Sachsen-Anhalt und Sachsen mindestens jeweils einen Wahlkreis komplett. Gründe dafür sind die demografische Entwicklung und die beschlossene Wahlrechtsreform. Besonders der ländliche Raum wird unter der Reform leiden.

Alexander Laboda
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Herbert Wollmann ist seit September 2021 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Altmark im Norden Sachsen-Anhalts. Der SPD-Politiker aus Stendal erhielt bei der Bundestagswahl 27,5 Prozent der Erststimmen. Er vertritt die Interessen von rund 194.000 Menschen.

Herbert Wollmann spricht im Bundestag
Herbert Wollmann bei einer Rede im Bundestag. Bildrechte: picture alliance/dpa/Michael Kappeler

Wollmanns Wählerschaft lebt allerdings auf einer Fläche von mehr als 4.700 Quadratkilometern. Und das empfindet der 71-Jährige als Problem: "Wahlkampf in so einem Wahlkreis zu machen, der fast doppelt so groß wie das Saarland ist, das ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Da kann man keine Bürgernähe herstellen", sagte Wollmann im Herbst nach der Wahl.

Was Herbert Wollmann beklagt, wird sich in Zukunft jedoch weiter verschärfen. Zwar ist der Wahlkreis Altmark aktuell der flächenmäßig größte in Mitteldeutschland. Doch ausgerechnet dieser Wahlkreis ist für die Anforderungen des bundesdeutschen Wahlrechts bald zu klein – jedenfalls was die Anzahl der Einwohner angeht. Das hat zwei Gründe: die schrumpfende Bevölkerung und die jüngste Wahlrechtsreform.

Weniger Wahlkreise durch Wahlrechtsreform

Die Wahlrechtsreform ist der einflussreichere Faktor. Weil der Bundestag viel größer ist, als er sein soll, beschloss die Große Koalition aus Union und SPD in der vergangenen Legislaturperiode die Zahl der Wahlkreise in Deutschland zu senken. Aus derzeit 299 Wahlkreisen sollen zur kommenden Wahl 280 werden. Der Schritt soll dazu beitragen, dass sich der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate weniger stark aufbläht.

Derzeit befasst sich erneut eine Wahlrechtskommission mit dem Thema. Am Dienstag trifft sich das Gremium wieder. Bis Ende des Monats soll ein Bericht vorliegen. Die bisherigen Beschlüsse könnten auf dieser Basis wieder geändert werden.

Sollte es aber bei der Reduzierung der Wahlkreise bleiben, hätte das umfassende Konsequenzen. Der Gesetzgeber schreibt nämlich vor, dass in jedem Wahlkreis ungefähr gleich viele Menschen leben sollen. Sinkt die Zahl der Wahlkreise, steigt rechnerisch die vorgesehene Bevölkerungszahl pro Wahlkreis. Nach Zahlen des Bundeswahlleiters liegt die aktuelle Durchschnittsgröße bei rund 241.500 Menschen – wobei Ausländer nicht mitgezählt werden. Bei nur noch 280 Wahlkreisen ergibt sich daraus eine künftige Sollgröße pro Wahlkreis von rund 258.000 Menschen.

Immer größere Wahlkreis auf dem Land

Der Wahlkreis Altmark liegt bereits ohne Berücksichtigung der Wahlrechtsreform am unteren Ende des Toleranzbereichs, was die Anzahl der Bewohner angeht. Dort lebten zum Stichtag 31. März 2022 lediglich 183.617 deutsche Staatsbürger – eine Abweichung von 24 Prozent vom Durchschnittswert. Die circa 7.000 ausländischen Bürgerinnen und Bürger, die im Wahlkreis leben, werden wie gesagt nicht mitgezählt.

Kriterien für die Einteilung von Wahlkreisen Die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Bundesländern soll deren Bevölkerungsanteil so weit wie möglich entsprechen.

Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises soll außerdem nicht mehr als 15 Prozent nach oben oder unten von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl aller Wahlkreise abweichen. Beträgt die Abweichung mehr als 25 Prozent, ist eine Neuabgrenzung vorzunehmen. Maßgeblich hierfür ist die Zahl der deutschen Bevölkerung unabhängig von ihrem Alter.

Bei der Einteilung sollen die Grenzen der Gemeinden, Kreise und kreisfreien Städte möglichst eingehalten werden. Wahlkreise dürfen nicht die Grenzen von Bundesländern überschreiten. Bundeswahlleiter/MDR

Die enorme Fläche des Wahlkreises Altmark berücksichtigt das deutsche Wahlrecht nicht. Um die Kriterien bei der Bundestagwahl 2025 einzuhalten, müsste der Wahlkreis räumlich also wachsen. Bundestagsabgeordneter Herbert Wollmann könnte das nur schwer akzeptieren: "Ich finde das ungerecht gegenüber den Wahlkreisen in den Städten, die ich als Abgeordneter locker innerhalb eines Tages ablaufen kann", sagt er.

Politikwissenschaftler: "Heikler Vorgang"

Tatsächlich führt die Entwicklung der Bevölkerungszahlen langfristig dazu, dass wachsenden Städten mehr Bundestagsmandate zugeschrieben werden, während schrumpfende Flächenländer Wahlkreise verlieren.

Der Politikwissenschaftler Hans Vorländer, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der TU Dresden, sieht darin einen "heiklen Vorgang", der gut erklärt werden müsse.

Es gebe einen Zielkonflikt, der nicht aufgelöst werden könne. "Für die Demokratie ist Nähe besonders wichtig. Sie lebt vom direkten Austausch zwischen Repräsentanten und Wählerschaft", sagt der Professor.

Für die Demokratie ist Nähe besonders wichtig.

Hans Vorländer Politikwissenschaftler, Universität Dresden

Andererseits müsse im Wahlrecht weiterhin das Prinzip "One person, One vote" gelten, also dass jede Stimme gleich viel zähle, führt Vorländer aus. Deshalb könne die Fläche eines Wahlkreises nicht künstlich verkleinert werden. "Sonst wären am Ende Menschen auf dem Land stärker repräsentiert als diejenigen, die in der Stadt wohnen", erläutert der Wissenschaftler. Letztlich müsse man den demografischen Wandel anerkennen, auch wenn das für Wählerschaft und Abgeordnete in manchen Regionen lange Wege bedeute.

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Prof. Petrik von der Uni Halle beantwortet, was politische Partizipation bedeutet.

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Auch Wahlkreise Dessau-Wittenberg und Nordsachsen zu klein

Von dieser Entwicklung sind in Mitteldeutschland kurzfristig noch zwei weitere Wahlkreise betroffen: Dessau-Wittenberg und Nordsachsen. Dessau-Wittenberg hat mit seiner deutschen Bevölkerung von aktuell rund 191.500 etwa ein Fünftel zu wenig Einwohner. Der Wahlkreis Nordsachsen weicht mit seinen circa 188.000 deutschen Bewohnern um 22,1 Prozent vom Schnitt ab. Beide Wahlkreise verlieren, ebenso wie der Wahlkreis Altmark, kontinuierlich Bevölkerung, sodass eine Anpassung auch ohne Wahlrechtsreform bald zwingend wird. Mehr als 25 Prozent Abweichung sind gesetzlich nicht erlaubt.

Mit der Reform müssten ohnehin auf Ebene der Bundesländer Wahlkreise aufgelöst beziehungsweise anders zusammengelegt werden. Auf Basis der aktuellen Zahlen des Bundeswahlleiters stehen Sachsen künftig rechnerisch nur noch 14,8 Wahlkreise zu. Momentan hat das Land 16. In Sachsen-Anhalt ergäbe sich eine Zahl von 7,9 Wahlkreisen. Derzeit sind es 9.

In Thüringen entspricht die aktuelle Zahl von 8 Wahlkreisen dagegen recht genau dem künftigen Anspruch von rechnerisch 7,7. Das liegt daran, dass Thüringen bereits zur Bundestagswahl 2017 einen Wahlkreis verlor. Der Wahlkreis Gera - Jena - Saale-Holzland-Kreis wurde damals aufgelöst, andere wurden neu zugeschnitten.

Wahlkreiskommission berät bis 2023

Dem Bundeswahlleiter sind die Probleme bewusst. Ein Sprecher teilte dem MDR mit Blick auf die Wahl 2025 mit: "Es werden vielerorts über die Bevölkerungsentwicklung hinaus deutlich umfangreichere Neuabgrenzungen erforderlich sein."

Wo genau Wahlkreise wegfallen oder umgeordnet werden, entscheidet sich allerdings erst noch. Vorschläge dazu macht die sogenannte Wahlkreiskommission. Sie trat am 15. Juni erstmals in dieser Legislaturperiode zusammen. Neben dem Bundeswahlleiter gehören ihr ein Richter des Bundesverwaltungsgerichts sowie mehrere sachverständige Beamte aus den Bundesländern an. Die Ländervertreter in der aktuellen Kommission kommen aus Hessen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Bayern und Nordrhein-Westfalen; Fachleute aus den ostdeutschen Bundesländern sind nicht dabei.

Ihren Bericht samt Vorschlägen zur Wahlkreiseinteilung muss die Kommission spätestens 15 Monate nach Beginn der Wahlperiode vorlegen, also bis zum 26. Januar 2023. Auf Grundlage der Vorschläge trifft der Bundestag die endgültigen Entscheidungen.

Möglicherweise kommt aber alles noch ganz anders. FDP, Grüne und Linke haben vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Wahlrechtsreform geklagt. Hauptsächlich geht es ihnen dabei um die Berechnung der Überhang- und Ausgleichsmandate, aber möglichweise kippt Karlsruhe die geltenden Beschlüsse.

Die von der Ampel eingesetzte Wahlrechtskommission soll zum 31. August einen Zwischenbericht vorlegen. Im Lichte der Ergebnisse könnte auch die Bundesregierung eine Reform der Reform angehen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 27. August 2022 | 19:30 Uhr

63 Kommentare

DER Beobachter am 29.08.2022

Harka, Ihre Ausführungen sind nicht ganz falsch, aber das Problem einer tatsächlichen oder gefühlten Unterrepräsentierung oder Vernachlässigung des ländlichen Raums haben de facto die Landbewohner quer durch Europa. Aber die prognostizierten demographischen Entwicklungen für Deutschland bis 2050 sind denn doch noch recht speziell: Für sämtliche westdeutschen Bundesländer außer das Saarland und Bremen wird mit einem Bevölkerungszuwachs gerechnet auch im ländlichen Raum. Nur in den ostdeutschen Ländern wird mit einer weiteren Verringerung durch Wegzug und Aussterben gerechnet. In der Tat ein Teufelskreis...

hilflos am 29.08.2022

@tom , ja jeder hat seine Sicht der Dinge. Oft erkennt man erst später was wirklich dahinter steckt. Klar soll man das machen, jedoch braucht D nicht das zweitgrößte Parlament der Welt.

Wessi am 29.08.2022

aber @ goffman...auch diesen AfD-Kandidaten muß man so sehen wie er denkt: seinem Gewissen folgend und AfD-Meinungen vertretend.So ärgerlich,gefährlich etc. es in diesem Falle wäre: er hätte die Mehrheit und man kann dann nur alles tun,um ihm den Wahlkreis bei der nächsten Wahl wieder abzunehmen!Seiner Meinung nach verträte er auch unsere Meinung+vor allem Interessen...!Demokratie hat nichts mit Neutralität zu tun...!Zu Ilse...die Dame ist sehr AfD-affin.Und noch eines: so teuer unser System auch sein mag, ist es doch bewährt.Meinethalben darf der Bundestag auch sehr groß sein.

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