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Was treibt ostdeutsche Wähler zur AfD? Unser Autor meint, dass es zu einem guten Teil auch Diskurse städtischer Milieus sind und die Veränderungen, die von ihnen ausgehen. Bildrechte: imago/Ralph Peters

Wahlverhalten Stadt-LandAfD-Wähler: Protest gegen "städtische" Diskurse und Veränderungsdruck

06. Oktober 2021, 11:26 Uhr

Ostdeutsche AfD-Wähler fürchten Veränderungen ihres für sie "normalen" Lebens. Sie haben das Gefühl, solche Veränderungen aufgenötigt zu bekommen, aber keine Rolle zu spielen in von städtischer Lebensweise geprägten Diskursen über Modernisierung. Dagegen wehren sie sich – und Ergebnisse der jüngsten Bundestagswahl sind deshalb auch ein Ausdruck von Protest.

Die AfD-Erfolge bei der Bundestagswahl in Ostdeutschland haben viele Leute aufgeschreckt. Die trotz bundesweit leichter Verluste beachtlichen Ergebnisse der AfD im Osten, vor allem in ländlichen Wahlkreisen in Sachsen und Thüringen, liegen nicht nur Politikern anderer Parteien schwer im Magen. Auch andere Wähler fragen besorgt, was in den ländlichen Regionen im Osten die rechtskonservative, nationalistische und zum Teil rechtsradikale AfD so attraktiv gemacht hat.

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Viele Analysen versuchen nun, diese "Anomalie" zu erklären, mit über- und unterbelichteten Aspekten. Weder taugt allein das Rechts-/Links-Schema und die Behauptung, viele Wähler im Osten seien einfach rechts, als Erklärung – etwa dafür, warum nicht wenige der früheren Linke-Wähler heute der AfD ihre Stimme geben – noch scheinen allzu simple Ost-West-Vergleiche etwas zu bringen.

Wenn etwa Thüringens CDU-Chef Mario Voigt als Grund für Einbußen seiner Partei ausmacht, dass Ost-Themen im Wahlkampf keine Rolle gespielt hätten, könnte das auch daran gelegen haben, dass diese Themen eben keine so große Rolle mehr spielen. Auf einer heißeren Spur könnte er sein, wenn er sagt, dass Menschen gerade in ländlichen Regionen sich mit "Berlin-Mitte-Themen" nicht einen anderen Lebensstil aufdrücken lassen wollten.

"Integriert uns": Unterschiede zwischen Stadt und Land

Zunächst aber zwei einfache Dinge: Es gibt solche und solche Wähler in Stadt und Land, hier geht es allerdings um die auffälligen demokratische Mehrheiten in einem Teil von Ostdeutschland, und: Die Gründe dafür sind komplex. Die eine Ursache gibt es nicht, etwa eine "Diktatur-Sozialisierung", wie sie der CDU-Politiker und Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, ausgemacht hatte und die vielleicht von der Elterngeneration auf Teile der jüngeren abfärbt.

Gleichwohl legt der Blick auf die Wahlergebnisse im Westen nahe, dass im Osten etwas anders sein muss. Neben auch im Westen erkennbaren Unterschieden zwischen Stadt und Land, Groß- und Kleinstädten, urbanem und ländlichem Leben scheinen im Osten durchaus auch spezifische Erfahrungen relevant zu sein.

Dabei geht es aber nicht in erster Linie um jene von DDR-Bürgern vor der Wende, wie Wanderwitz meinte. Es sind wohl vielmehr Erfahrungen, die viele von ihnen in den wenigen Jahren nach der Wende machen mussten, negeative Erfahrungen.

"Integriert doch erstmal uns!" – diesen Satz, während der "Flüchtlingskrise" in TV-Kameras von einem älteren weißen Mann in Ostdeutschland ausgesprochen, griff Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) als Haupt-Titel ihrer 2018 erschienenen "Streitschrift für den Osten", und darin schreibt sie:

Die Menschen in Ostdeutschland haben den Niedergang eines Systems erlebt. Deswegen haben sie Angst, wenn es um Veränderungen geht.

Köpping: "Integriert doch erstmal uns!" | Christoph Links Verlag 2018

Neben der Angst vor Veränderungen durch Zuzug und Migration thematisierte Köpping aber auch augenfällige Probleme ländlicher Räume: Klamme Finanzen erschweren es kleineren Kommunen, attraktiv zu bleiben, besonders im Osten. Sie verlieren erwerbstätige Einwohner und Steuerkraft – ein Teufelskreis. Und immer weitere Wege zum Einkauf oder zu irgendeinem kulturellen Angebot verstärken natürlich das Gefühl, abgehängt zu sein, da zu leben, wo nichts mehr los ist.

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Thematische Unterschiede

Solche thematischen Unterschiede zwischen Großstadt, Dorf und Kleinstadt, zwischen den jüngeren Bevölkerungen der Städte und den älteren auf dem Land müssen Politiker bedenken, wenn sie hier und da Stimmen sammeln wollen.

Themen von Leuten im Einfamilienhaus – Straßenausbaubeiträge, weite Wege, ausgedünnter öffentlicher Nahverkehr, schließende Schulen oder dass die letzte Kneipe im Ort auch bald dichtmacht – sind für Städte im doppelten Sinn nur am Rand relevant. In Städten können sich Menschen vor Kneipen manchmal kaum retten. Hier geht es um steigende Mieten, zu wenig Grün und zu viel Verkehr und um das Zusammenleben von Menschen diverser kultureller Hintergründe – aber auch darum, wie moderne urbane Lebensweisen aussehen können, alternative Familienmodelle oder nicht hetero-normative Identitäten und Sexualität.

In dieser Hinsicht beginnt "der Westen" für viele Sachsen etwa nicht an einer westlichen Landesgrenze, sondern in Leipzig. Es gibt schließlich gute Gründe, warum für junge Leute auch aus "alten Bundesländern" eine solche Großstadt attraktiver ist als die Provinz, vor allem die ostdeutsche. Denn hier lebt es sich aus ihrer Sicht gar nicht so anders als etwa in Hamburg, nur etwas billiger noch.

Emotionale Unterschiede und ostdeutsche Entfremdung

Das führt zu dem tiefer liegenden Problem einer auch gefühlten Entfremdung zwischen Land und Stadt, in der sich Menschen vom Land nicht mehr heimisch fühlen. Dieses Gefühl schlägt sich auch in politischen Einstellungen nieder. Denken und Fühlen fallen viel häufiger zusammen, und politische Urteile werden stärker von Gefühlen bestimmt, als die meisten Menschen sich eingestehen mögen.

Und so geht es nicht nur um fehlende Busse oder lahmes Internet. Auch auf dem Dorf begreifen Menschen, dass Läden oder Schulen irgendwann schließen, wenn keine Kunden oder Kinder mehr da sind. Problematischer ist ihr Gefühl, abgehängt zu sein von dem, was in Städten relevant ist und nicht für das eigene Leben, was ihnen über die politischen und medialen Themensetzungen aber vermeintlich doch aufgedrängt wird. Dieser Empfindung weichen Zusammenhalt und Mitgefühl.

"Fremd in ihrem Land": Was wir aus den USA lernen können

Beispielhaft beschrieben hat diese von Gefühlen und Ressentiments bestimmte "Tiefengeschichte" einer Entfremdung die US-Soziologin Arlie Russel Hochschild in ihrer Untersuchung "Fremd in ihrem Land – Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten" 2016. Nicht alles, was sie als Hintergrund des Wahlsiegs von Donald Trump in den US-Südstaaten entdeckt und aufgeschrieben hat, lässt sich auch auf ostdeutsche AfD-Wähler übertragen – einiges aber schon, etwa wenn es um von die Hochschild ausgemachten "Gefühlsregeln" geht, die hierzulande ja auch die AfD adressiert. So ist in der 2017 erschienenen deutschen Ausgabe¹ zu lesen:

Die Rechte möchte sich von liberalen Vorstellungen, was sie empfinden sollte, befreien: Freude über frisch verheiratete Homosexuelle, Betroffenheit über die Not syrischer Flüchtlinge.

Arlie Russel Hochschild | "Fremd in ihrem Land" 2016

Solche im ländlich geprägten Süden der USA gesammelten Eindrücke klingen ähnlich den AfD-Slogans, die bei Ostdeutschen anscheinend wirken, die sich wohl ähnlich weit entfernt von Berlin fühlen wie ihre "Leidensgenossen" von New York.

Und wahrscheinlich kommen bei ostdeutschen AfD-Wählern auch negative Nachwende-Erfahrungen mit den neueren Entfremdungsgefühlen zusammen. Thematische, emotionale und sonstige Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt es auch im Westen. Doch den von Köpping angesprochenen "Niedergang" ihrer Lebenswirklichkeit haben in dieser rasanten Brutalität nur mittlere Generationen im Osten erlebt. Und da, wo sie sich einigeln konnten, um weiterer Veränderung zu entgehen, geben sie Ängste und Vorurteile an die jüngere Generation weiter.

Wenn etwa eine Frau aus Delitzsch dem MDR nach der Wahl sagte: "Die Leute wollen, dass sich etwas ändert. Deshalb haben sie die AfD gewählt", dann meinte sie vermutlich, dass sich die Politik ändern sollte, nicht sie ihr eigenes Leben.

Auch die soziale Frage gibt es noch

Hochschild schreibt auch, dass viele ihrer Gesprächspartner das Gefühl hätten, ihnen werde Mitleid mit Empfängern sozialer Leistungen aufgedrängt. Als eine "Hauptquelle für den Groll, der das Feuer der Rechten schürte", vermutet sie auch Konflikte zwischen Mittel- beziehungsweise Arbeiterschicht und Armen, die Liberale nicht im Blick hätten. Dadurch entstehe bei Menschen der Eindruck, "dass der gesamte Staat auf der falschen Seite" stehe.

Ein Mann aus Crostwitz sagte nach der Wahl, seit 30 Jahren habe sich "für den Osten nichts geändert. Lohnmäßig gar nichts. (...) Milliarden geben wir für andere Länder und für die Rüstung aus. Für den normalen Bürger (...) bleibt nichts übrig." Wahl-Statistiker sagen, dass vor allem Arbeiter und Arbeitslose blau wählen.

Und würde man bei Ost-West-Vergleichen nicht immer nur auf die Brutto-Einkommen, sondern auch auf die aus Renten und Pensionen, aus Kapitalanlagen und Grundbesitz und überhaupt auf die Vermögensverteilungen schauen, würde man auch sehen, dass der Mann aus Crostwitz gar nicht so falsch empfindet.

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AfD greift Entfremdungsgefühle auf

Die AfD greift diese materiellen Unzufriedenheiten und die Entfremdungsgefühle auf, was im Osten funktioniert. Denn hier streut sie Salz in die alten Wunden eines als aufgezwungen erlebten Veränderungsdrucks von damals, der sich heute vereint mit dem Erleben eines neuen. Das führt zu Aversionen auch gegen die Demokratie, die als ein kontrolliertes "System" wie das der DDR missverstanden und für heutige persönliche Miseren verantwortlich gemacht wird – bis hin zur Corona-Pandemie.

Vor allem aber wirkt hier das Abwehren eines jüngeren urbanen Lebensstils, der sogar noch Lust auf ständige Veränderung hat, Lust auf andere Menschen, andere Kulturen – nicht nur im Urlaub. Viele, die diesem Milieu fern sind, haben darauf keine Lust. Sie wollen, dass ihr Leben so "normal" bleibt, wie sie es sehen, wollen nicht gendern und ihre Sprache ändern, nicht ihr Leben und ihre Ansichten und schon gar nicht auf Druck. Nicht umsonst punktete die AfD bei ihnen dieses Mal auch mit dem Slogan: "Deutschland, aber normal!".

Es ist viel Protest dabei, Unzufriedenheit, dass man glaubt, man wird nicht gehört.

Mann auf dem Marktplatz in Delitzsch | MDR SACHSEN – Das Radio

Da Normalität ein diskursives Konstrukt ist, kann es die AfD beliebig füllen, mit "deutscher Leitkultur", nationalistischem Egoismus und dem gezielten Bespielen von Ängsten vor Fremden und Veränderung. Auch andere Parteien könnten das Schlagwort nutzen, ohne AfD zu spielen: Mit "normalen" Löhnen etwa, "normalen" Fahrzeiten, "normalen" Mieten. Was das bringen könnte, ist allerdings fraglich.

AfD-Wähler "zurückholen"?

Die AfD werde zur Ost-Partei und binde ältere Wähler als größte Gruppe, meint der Extremismusforscher Andreas Zick. Sie habe zwar bundesweit "an Anziehungskraft verloren", im Osten aber kaum. Hier müssten Parteien nun zusehen, wie mit einem "stabilen parlamentarischen Rechtspopulismus, der etablierte Normen und Werte dauerhaft infrage stellt und zugleich 'Normalität' behauptet, umzugehen ist".

Wer AfD-Wähler zurückholen will, kann natürlich versuchen, mit viel Geld aus herunterkommenden Dörfern und Kleinstädten eine "blühende Landschaft" zu machen, mit kurzfristig begrenzter Aussicht auf Erfolg. Wer der AfD die Wähler wieder abjagen will, kann auch versuchen, sie zu kopieren – eine Dummheit, die bei der CDU gelegentlich zu beobachten ist, mit ebenfalls begrenztem Erfolg:

Unumgänglich ist jedoch, sich den Wahlkampf der AfD noch genauer anzuschauen und dabei vor allem auch ostdeutschen AfD-Wählern die Frage zu stellen, warum er bei ihnen so gut verfangen hat. Das passiert leider noch zu wenig.

Die AfD konzentriert sich halt einfach auf die Sorgen der Bürger.

Mann in Eilenburg | MDR SACHSEN – Das Radio

Denn klar ist wohl, dass bei einer auch emotionalen Entfremdung "das Problem" nicht allein durch mehr Linienbusse und mehr Ärzte auf dem Land zu lösen ist oder durch mehr Megabytes pro Sekunde in den Internet-Verbindungen. Wanderwitz hatte nicht unrecht, als er Ende Mai mit dem Blick auf AfD-Wähler meinte: "Diese Menschen sind nicht durch gute Arbeit von Regierungen zurückzugewinnen."

Nicht recht dürfte er mit seiner These von der "Diktatur-Sozialisierung" haben, wobei diese verständlich ist: Als Ostdeutsche vor allem in den 1990er-Jahren auch negative Erfahrungen in dieser Demokratie machten, regierte seine CDU in Sachsen durchgehend und meist auch in Thüringen. Es wird nicht leicht, die Fehler von damals zu korrigieren. Zudem kann die CDU ebenso wenig wie andere Parteien auf die größere und liberaler eingestellte Wählerschaft verzichten. Kein Wunder ist aber, dass ihr Spitzenkandidat Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen mit seinem "Modernisierungsjahrzehnt" im tiefen Osten nicht gezündet hat.

Mit dem Versprechen von Normalität geht es allerdings auch nicht, denn diese veränderliche Welt hält sich nicht daran. Neben stärkeren Bemühungen um mehr Verständnis bleibt wohl nur der Versuch, die Kluft zwischen Stadt und Land so weit wie möglich zu schließen. Deren Verkleinerung haben sich vor der Bundestagswahl die Menschen im Osten gewünscht. Das muss auch deswegen Vorrang haben, weil Entfremdungsgefühle und ostdeutsche Nachwende-Erfahrungen noch sehr viel schwerer zu heilen sind.

Wichtig ist aber, dass sich Angst vor Veränderung nicht festsetzt in breiteren Bevölkerungsschichten, denn Gefühle der Unsicherheit und Wünsche, alles möge beim Alten bleiben, sind nicht auf AfD-Wähler im Osten beschränkt. Beängstigend dicht an deren Gefühlen war schon 2009 die Pop-Band "Silbermond" aus Bautzen mit ihrem Song "Irgendwas bleibt", in dem sie unter anderem beklagt:

Diese Welt ist schnell
Und hat verlernt, beständig zu sein
Denn Versuchungen setzen ihre Frist
Doch bitte schwör, dass wenn ich wiederkomm
Alles noch beim Alten ist
Gib mir 'n kleines bisschen Sicherheit
In einer Welt, in der nichts sicher scheint
Gib mir in dieser schnellen Zeit, irgendwas das bleibt

¹) A.R. Hochschild: "Fremd in ihrem Land", Campus Verlag, Frankfurt/Main, 2017

Dieses Thema im Programm:exakt | 29. September 2021 | 20:15 Uhr