31 Jahre nach der Wiedervereinigung Ostdeutsche: "Es ist, als wären wir unsichtbar"

03. Oktober 2021, 09:48 Uhr

Die Mauer ist seit fast 32 Jahren Geschichte. Als sie fiel, waren Kathrin Rosenkranz und Angelika Rudolph Anfang dreißig – nun gehen sie in Rente. Conrad Dietrich hingegen ist 1998 geboren und ein Kind des geeinten Deutschlands. Doch alle drei spüren, dass es immer noch Trennendes zwischen Ost und West gibt. Sie hadern vor allem mit Kischees, Vorurteilen und Ungleichheiten.

Kathrin Rosenkranz steht vor einem sanierten Gründerzeithaus in Leipzig-Connewitz: "Hier habe ich bis 1995 gewohnt, bis wir – auf Deutsch gesagt – geflüchtet sind." Sie zeigt auf die Hausnummer, die zu DDR-Zeiten noch goldener war als das flach aufgeklebte Exemplar heute: Die Nummer damals war eine Auszeichnung, die in der DDR besonders aktiven Hausgemeinschaften verliehen wurde.

Neue Fenster, Abwasserrohre, Einbau einer Heizung – engagiert stemmte sich die Mietergemeinschaft in den 1980er Jahren gegen den Verfall des Hauses. "Im Winter haben wir eigenhändig die Toilettenrohre enteist", erinnert sich Rosenkranz.

Mit dem Fall der Mauer kam ein neuer Eigentümer. Das Haus wurde grundsaniert. "Mit zwei kleinen Kindern wollte ich mir den Stress einer Sanierung im bewohnten Zustand nicht antun", erzählt Rosenkranz. Nach und nach sei das Haus entmietet worden, bis der letzte Mieter ging. Die Hausgemeinschaft zerbrach. "Für unsere Leistung, die wir erbracht haben, haben wir nichts erhalten – außer einem Fußtritt."

Es blieb für Kathrin Rosenkranz daher neben den vielen schönen Erinnerungen an die Zeit in Connewitz auch viel Bitterkeit. "Aus West-Sicht zählt Leistung nur etwas, wenn sie zu Reichtum führt", beklagt sie. Die Aufopferungen für die Gemeinschaft ohne persönlichen Vorteil fielen da hintenüber. So sei es ihr mit der Hausgemeinschaft ergangen, aber auch auf Arbeit oder in der Kultur.

Die Ingenieurin wohnt mittlerweile in Leipzig-Lößnig und ist in Altersteilzeit. Aus ihrem Job beim Fernmeldeamt wurde nach der Wiedervereinigung eine Anstellung bei der Telekom. Rosenkranz empfindet es als unfair, dass die Kollegen, die aus dem Westen gekommen seien, bessere Löhne erhielten, dank der "Buschzulage" – und nun mit besseren Bezügen in Rente gingen. Trotzdem: "Verglichen mit vielen meiner Schulkameraden geht es mir heute gut." Nicht wenige, die kurz vorher auf Montagsdemonstrationen gewesen seien, seien wenig später in die Arbeitslosigkeit abgerutscht.

Mit 22 zurück aufs Land

Conrad Dietrich war damals noch gar nicht geboren. Der heute 22-Jährige macht eine Ausbildung zum Kaufmann für audiovisuelle Medien – und lebt in Burg in Sachsen-Anhalt. Zuvor studierte er ein paar Semester in Halle, doch lange hielt er es dort nicht aus. "Diese Weitläufigkeit der Region, der freie Himmel – das habe ich vermisst" blickt er zurück.

Im Westen höre ich öfters sowas wie: Sind das nicht alles Nazis im Osten? Da werde ich dann richtig trotzig und sage: Nein, so ist es nicht.

Dietrich genießt es, mit dem Rennrad die Elbe entlangzufahren, wenn er seine Freunde im 25 Kilometer entfernten Magdeburg besucht. Gerade jetzt, im Spätsommer, ist das eine geradezu paradiesische Fahrt. Aber auch sonst fährt er die Strecke gern – auch in umgekehrter Richtung. Denn: Burg ist für ihn keine verschlafene Kleinstadt: "Hier passiert richtig was. Es gibt viele Initiativen, viel Innovation." An die Stelle der grauen Fassaden in Burg während seiner Kindheit sei viel Neues getreten, sichtbar etwa an der Sanierung und bunten Gestaltung der alten Volkshochschule. Dietrich selbst engagiert sich bei "Weitblick", einem Kino- und Kulturverein.

Für die Berufsschule fährt Conrad Dietrich regelmäßig nach Hannover. Um in Burg leben zu können, nimmt er die Zugfahrten in Kauf. Er findet es ärgerlich, wenn junge Menschen, die bleiben wollen, dann am Ende doch gehen. "Viele meiner Freunde arbeiten im Medienbereich. Die haben nach dem Studium die Region für die Arbeit verlassen." Ein Umstand, der aus Conrad Dietrichs Sicht nicht so bleiben muss. Für ihn ist klar: Burg mit seiner Nähe zu Berlin und Magdeburg und seinen vielen Freiräumen bietet Platz für Innovation und wirtschaftliche Entwicklung.

Damit Regionen wie das Jerichower Land, dessen Kreisstadt Burg ist, die erhoffte Entwicklung nehmen können, wünscht sich Conrad Dietrich mehr Ostdeutsche in der neuen Bundesregierung – politische Köpfe, die die speziellen Herausforderungen des Ostens im Blick haben. Verbundenheit mit Ostdeutschland, jenseits von Klischees: Das ist Dietrichs Anliegen. Gerade dem Eindruck, die ostdeutsche Provinz könne man sowieso nur abschreiben, tritt Dietrich entgegen: "Im Westen höre ich öfters sowas wie: Sind das nicht alles Nazis im Osten? Da werde ich dann richtig trotzig und sage: Nein, so ist es nicht."

Beim Spaziergang durch seine Heimatstadt fällt ihm an jeder Ecke eine Geschichte ein, Bekannte grüßen beim Vorbeigehen. Und auch, wenn Burg noch immer unter dem jahrelangen Bevölkerungsrückgang leidet: Conrad Dietrich hat sich für einen optimistischen Blick auf seine Heimatstadt entschieden.

 "Wir sind unsichtbar" – Angelika Rudolph aus Leipzig-Mockau

Anders als in Burg drängt sich auf der Mockauer Straße im Norden Leipzigs der Verkehr. Laut ist es, obwohl die Straße wie die meisten anderen im Stadtgebiet längst nicht mehr gepflastert ist. Folgt man ihr, entlang an Nachkriegs- und Plattenbauten, verstummt noch innerhalb der Stadtgrenzen der dichte Verkehr aus Autos und Straßenbahnen. Dann wird es ruhig, ist der Weg gesäumt von grünen Hecken, dahinter liegen liebevoll gepflegte Gärten.

Angelika Rudolph steht an der Pforte des Kleingartenvereins Mockau-Mitte. Einen Großteil ihres Lebens hat sie in diesem Stadtteil verbracht. 1975 hat die 62-Jährige ihre Ausbildung bei der Mockauer Post begonnen. Bei ihrem Ausbildungsbetrieb blieb sie bis zur Rente – keine Selbstverständlichkeit. Doch mit dem Mauerfall begann auch für Angelika Rudolph eine Zeit der Unsicherheit. Die Post wurde privatisiert, Angestellte mussten um ihre Jobs bangen und immer wieder änderten sich Vorgaben und Aufgabenbereiche. Rudolph musste sich immer wieder neu anpassen.

Angelika Rudolph hat einen körperbehinderten Sohn. "In der DDR wussten wir, für ihn ist gesorgt", blickt sie zurück. Nach dem Mauerfall war diese Gewissheit dahin. Auch, wenn letztlich alles gut ging: "Ich habe das als sehr schwierige Zeit erlebt. Und ich würde sagen, ich bin seitdem verschlossener." Angelika Rudolph sieht sich als Teil einer Gruppe, die in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Politik zu kurz kommt: Die, die sich in der DDR weder aufgelehnt noch im SED-Staat Karriere gemacht haben. "Die Leute, die einfach nur ihr Leben gelebt haben und versucht haben, das beste aus der Situation zu machen."

Es ist ein ganz seltsamer Zustand. Es ist, als wären wir für die Politik und die Generationen nach uns unsichtbar.

Angelika Rudolph ist mittlerweile im Vorruhestand und arbeitet zusätzlich auf 450-Euro-Basis. Wie Kathrin Rosenkranz ist auch sie für eine Angleichung der Renten und Löhne zwischen Ost und West. Doch es ist gar nicht so sehr das Materielle, was sie beschäftigt, sondern vielmehr die Frage, wie über den Osten geredet wird. Die Aussagen vom Ostbeauftragten Wanderwitz zur Demokratiefähigkeit von Teilen der Ostdeutschen machten sie wütend: "Von einem Ostbeauftragten erwarte ich, dass er sich vor die Leute hier stellt."

In der Berichterstattung wird, so nimmt es Angelika Rudolph wahr, Ostdeutschland nur in seinen Extremen dargestellt. Als gäbe es nichts zwischen Links- und Rechtsradikalismus.

Was ihrer Meinung nach vergessen wird, ist die Wertschätzung für das, was Ostdeutsche wie sie geleistet haben. Schließlich sei es zu einem bedeutenden Teil ihre Generation gewesen, die den Osten am Laufen hielt – und noch immer hält. Rudolph beschreibt: "Es ist ein ganz seltsamer Zustand. Es ist, als wären wir für die Politik und die Generationen nach uns unsichtbar."

Der Wunsch, gesehen zu werden

Angelika Rudolph wie auch Kathrin Rosenkranz wollen die DDR nicht verklären. Vieles gefiel ihnen nicht zu Ost-Zeiten. Sie wünschen sich, dass die Lebensleistung ihrer Generation gewürdigt wird – und zwar nicht nur finanziell, wie es selbstverständlich sein sollte, sondern auch ideell. Beide Frauen wollen von der Politik, auch von der im Bund, gesehen werden und Gehör finden. Ähnlich geht es der Jugend. Junge Menschen wie Conrad Dietrich sehen die Herausforderungen, vor denen ihre Heimat steht. Sie sind gewillt, sie anzugehen – fordern aber Unterstützung ein.

Ein Portraitbild von Katharina Neuhaus, MDR Volontärin.
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Über Katharina Neuhaus Katharina Neuhaus ist seit Anfang 2020 Volontärin beim MDR. In Dortmund hat sie Literatur- und Kulturwissenschaften auf Deutsch und Englisch studiert; in Essen Literatur & Medienpraxis und Amerikanistik. Berufliche Zwischenstopps waren das Goethe-Institut in Glasgow, DER SPIEGEL und die qualitative Sozialforschung. 2020 erhielt sie für ihren Kurzfilm "Ultraslut" den Digital Storytelling Award des LUMIX Festivals für Jungen Bildjournalismus.

MDR-Volontär Lukas Paul Meya
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Über Lukas Paul Meya Lukas Paul Meya ist seit Anfang 2020 Volontär beim MDR und arbeitete bisher für die Redaktionen von MDR AKTUELL, MDR KULTUR und MDR SACHSEN-ANHALT – jeweils für Fernsehen, Radio und Online. Dazu Einsätze bei funk, dem jungen Content-Netzwerk von ARD und ZDF, und bei Exakt/Fakt. Bevor er zum MDR kam, studierte er Kunst, Französisch und Politik in Halle, mit Abstechern nach Rennes in Frankreich und nach London. Anschließend hat er für das Berliner Unternehmen "planpolitik" Apps entwickelt, die Schülern und Studierenden Politik erklären. Seine Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt sind der Hufeisensee in Halle und das Biosphärenreservat Mittelelbe.

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