Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben
Das Kanzleramt in Berlin: Hier ist Olaf Scholz am 8. Dezember als Chef der ersten rot-grün-gelben Bundesregierung eingezogen. Wie es dazu kam, analysiert Torben Lehning. Bildrechte: MDR/dpa

AnalyseRollentausch im Regierungsviertel – ein Jahresrückblick

18. Dezember 2021, 12:46 Uhr

Man möchte mal kurz gekniffen werden: Angela Merkel hört nach 16 Jahren auf, die Union zerlegt sich im Wahlkampf, Olaf Scholz wird der vierte SPD-Kanzler der Bundesrepublik, noch vor Weihnachten steht die erste rot-grün-gelbe Regierung in der deutschen Geschichte. Wo vor Kurzem noch "die Fantasie" für eine Zusammenarbeit fehlte, redet die frisch gebackene Ampel jetzt von Freundschaft und Vertrauen. Wie konnte all das passieren? Der Versuch einer Spurensuche, die bis ins Jahr 2020 zurückreicht.

Eine Welt, wie wir sie kannten

Bestandsaufnahme, Januar 2021: Die zweite Welle der Corona-Pandemie überrollt Deutschland. Impf-Strategien und Diskussionen über eine Maskenpflicht bestimmen die politische Debatte. In Wahlumfragen thront die Union unantastbar mit 35 Prozent über den aufstrebenden Grünen (21 Prozent) und einer sozialdemokratischen Partei mit Schwindsucht. Gerade mal 14 Prozent der deutschen Bevölkerung können sich zum Jahreswechsel vorstellen, dem ewigen Zweiten mit GroKo-Abo, der SPD, ihre Stimme zu geben. Bürgerrente, Mindestlohn und Lieferkettengesetz – die Regierungsprojekte der Sozialdemokraten scheinen angesichts der epidemischen Lage nationaler Tragweite nur eine Randnotiz zu sein.

Die Union trägt 16 Jahre Regierungserfahrung wie einen Schild vor sich her. Auch wenn das Ende der Ära Merkel immer näher rückt, zahlt sich das Ackern der Krisen-Kanzlerin für die CDU und ihre Schwester-Partei CSU aus. Das erneute Rennen um den CDU-Vorsitz geht in die letzte Runde und schließlich kann sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet Mitte Januar in einer Stichwahl gegen seinen Konkurrenten Friedrich Merz durchsetzen. Eine Welt, wie wir sie kannten.

Die Frage nach dem Startschuss des Wahlkampfs

Wann hat eigentlich der Wahlkampf begonnen? Zwischen Lockdown, Flockdown, Osterruhe und Wellenbrechern wäre fast untergegangen, dass im Jahr 2021 neben Superspreading-Events auch ein Super-Wahljahr anstand. Die Frage nach dem Startschuss würden einem die Parteizentralen von SPD, CDU und Grünen wohl sehr unterschiedlich beantworten. Den Sozialdemokraten geschuldet müssen wir an dieser Stelle – eines Jahresrückblicks unwürdig – anachronistisch werden und ins Jahr 2020 springen, denn der SPD konnte es nicht früh genug losgehen.

Bereits im August 2020 nominierte der SPD-Parteivorstand Finanzminister Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten. Dieser trat mit der Unterstützung seiner einstigen Widersacher Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vor die Presse und verkündete selbstsicher: "Ich will die Wahl gewinnen." Der Öffentlichkeit und der politischen Konkurrenz rang das nur ein müdes Lächeln ab. Die CDU schien angesichts solcher Muskelspiele eher genervt als beunruhigt. In einem CDU-internen Schreiben, mahnte Generalsekretär Paul Ziemiak seine Partei, sich auf die Regierungsarbeit zu konzentrieren: "Für Wahlkampf ist jetzt nicht die Zeit", hieß es darin.

Doch zurück ins Frühjahr 2021 und zu einer Union, die mit wachsenden Problemen und sich selbst kämpft.

Krisen, Korruption und Konkurrenz

Nicht alle in der Union sind glücklich über den neuen Parteivorsitzenden Laschet. Vor allem die konservative Werteunion und die bayrische CSU machen sich Sorgen, dass mit dem liberalen Zugpferd aus dem Westen kein Rennen zu gewinnen ist. Im Konrad-Adenauer-Haus ist von Zusammenhalt und Schulterschluss die Rede, nicht so in Bayern. Ministerpräsident Markus Söder weiß um seine Beliebtheit, will selbst zum Kanzlerkandidat gekrönt werden und stichelt gegen Laschet wo und wann er nur kann.

Die Union ist mit sich selbst beschäftigt und hat dann dank windiger Maskendeals ihrer Abgeordneten auch noch eine Korruptionsaffäre am Hals. Die Umfragewerte sinken Woche um Woche, und sind auch durch die Einführung eines Lobbyregisters für den Bundestag nicht mehr einzufangen. Als der CDU-Parteivorstand am 20. April den Machtkampf zwischen Laschet und Söder beendet und Laschet zum Kanzlerkandidaten kürt, ist bereits klar, dass es nach der Kraftprobe der Schwesterparteien keine Gewinnerinnen gibt. Die Grünen führen bundesweit in den Umfragen – eine Momentaufnahme.

Auf der Suche nach Profil

Frühjahr bis Sommer: Die Union ist auf der Suche nach ihrer Kernkompetenz. 16 Jahre Krisenmanagement haben nicht genügend Strahlkraft, 16 Jahre Erfahrung formulieren nicht per se eine Zukunftsvision.

Mit Respekt-Kampagne und 12 Euro Mindestlohn besetzt die SPD sozialpolitische Themen und kann mehr und mehr in den Umfragen punkten. Umweltschutz und Klimapolitik liegen in grüner Hand. Die FDP macht der Union nicht nur das Wirtschaftsthema streitig, sondern auch noch mit einer sehr freiheitsbetonten Corona-Kritik gegen die Bundesregierung auf sich aufmerksam. Nach rechts blinken ist nicht, dort sitzt die AfD, die wiederum Querdenkerinnen und Querdenker als neues Stammwähler-Potential für sich entdeckt. Gerade im Osten kommt das bei vielen gut an.

Die CDU verlegt sich zunehmend auf eine "Rote-Socken-Kampagne" und warnt vor einem rot-grün-linken Bündnis auf Bundesebene. All das in einer Zeit, in der mehr als unsicher scheint, ob es die Linken es überhaupt in den Bundestag schaffen. Die Flutkatastrophe in NRW wird für Kanzlerkandidat Laschet zum nächsten Stolperstein. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Interview gibt, steht er feixend im Hintergrund. Der Hashtag #Laschetlacht trendet in den sozialen Medien.

Die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock zerstört derweilen Stück für Stück die Hoffnungen ihrer Partei auf die Kanzlerinnenschaft. Verspätete Einkunftsmeldungen an die Verwaltung des Bundestags und eine Plagiatsaffäre lassen Baerbocks Beliebtheitswerte sinken. Die anfangs noch stattlichen Umfragewerte schrumpfen mehr und mehr in sich zusammen.

Scholz hingegen schmunzelt sich durch den Wahlkampf. Cum-Ex-Affäre und Wirecard-Skandal scheinen der Vergangenheit anzugehören, beziehungsweise seiner öffentlichen Wahrnehmung nicht zu schaden. Der Hanseat wirkt mit seiner notorisch-pragmatischen, manche würden sagen spröden Art, neben einem immer schriller agierenden Laschet, wie der natürliche Nachfolger der scheidenden Regierungschefin.

Und trotzdem: Kurz vor der Bundestagswahl ist längst nicht ausgemacht, ob der Vorsprung der SPD auch für den Wahlsieg ausreicht.

Wahl und Wandel

26. September 2021: Deutschland wählt und verändert die Machtarithmetik der Bundesrepublik. SPD, Grüne und FDP gehen als Wahlsieger hervor. Die SPD kann ihr Glück kaum fassen und in allen Bundesländern zulegen. Was niemand glaubte, ist geglückt: ein knapper Wahlsieg gegen die Union. Die Konservativen verlieren im Vergleich zu 2017 2,8 Millionen Wählerinnen und Wähler, vor allem an SPD, Grüne und FDP.

Alles anzeigen

Die Themengewichtung der deutschen Wählerinnen und Wähler zeigt: Soziale Sicherheit, Umwelt und Klima sowie Wirtschaft und Arbeit (in dieser Reihenfolge) sind den Deutschen bei ihrer Wahlentscheidung am wichtigsten. In allen drei Themenfeldern muss die Union Kompetenzpunkte einbüßen. Es sind genau die drei Themenfelder, mit denen SPD, Grüne und FDP im Wahlkampf massiv geworben hatten. Ein Plan der aufging. Grüne und FDP können vor allem bei jungen Wählerinnen und Wählern punkten. Die Zustimmungswerte der CDU werden gerade in dieser Wählergruppe nahezu pulverisiert.

Die Linke kann sich nur mittels dreier Direktmandate in den Bundestag retten und verliert darüber hinaus viele Stammwählerinnen und Stammwähler im Osten. Die AfD kann ihr Stammwählerklientel mobilisieren, bleibt aber hinter den eigenen Erwartungen zurück und verliert leicht. Doch gerade im Osten bleibt die Partei erfolgreich.

Der Osten wählt anders

Die AfD wird in Thüringen und Sachsen stärkste Kraft und kann darüber hinaus mit Abstand die meisten Direktmandate gewinnen. In Sachsen-Anhalt und Brandenburg verliert die Partei zwar leicht an Stimmen, kann jedoch ihre starken Ergebnisse verstetigen. In allen vier Bundesländern werden die Landesverbände der AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft. 2017 werteten viele Expertinnen und Experten den Wahlerfolg der AfD mit einer Protestwahl. Davon kann mittlerweile kaum noch eine Rede sein. In Sachsen bekommt die AfD auch bei jungen Wählerinnen und Wähler die meisten Stimmen. Zum Vergleich: im Bundesdurchschnitt landet die AfD bei jungen Wählerinnen und Wählern auf dem letzten Platz. Für den sächsischen Ministerpräsident Michael Kretschmer ist die Bundestagswahl "ein Erdbeben". Ein Erdbeben, das auch im Konrad-Adenauer-Haus ankommt.

Vertrauliche Verschwiegenheit nach der Wahl

Anfangs sieht es noch so aus, als würde Wahlverlierer Laschet bis an die Grenzen der Realitätsverweigerung gehen. Laschet spricht immer wieder von einer unionsgeführten Regierung, wird dann aber von den Ereignissen eingeholt. Grüne und FDP wollen gemeinsam den Ton angeben. In den sogenannten Zitrusgesprächen bereiten die Parteispitzen Habeck und Baerbock, Lindner und Wissing vor, was gut zwei Monate später mit der SPD, in der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene, aufgehen soll: Vertrauen. Ein Selfie geht durch die Presse – verhandlungsinterne Informationen nicht.

Ein Mediencoup ohnegleichen bis dato in Deutschland: Mit diesem Selfie verkünden Grüne und FDP ihre Vorsondierungsgespräche (v.l.n.r.: FDP-Generalsekretär Volker Wissing, Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock, FDP-Vorsitzender Christian Lindner und Grünen-Vorsitzender Robert Habeck) Bildrechte: Screenshot: MDR

SPD, Grüne und FDP prägen einen Stil, der vielen medialen Beobachtern für lange Zeit völlig fremd war. Verschwiegenheit dominiert über mehrere Wochen das Regierungsviertel. Rot, grün und gelb verhandeln vertraulich im Verborgenen. Informationen über Inhalte und Posten dringen nicht nach außen. So wird verbunden, was unvereinbar scheint. Keine Steuererhöhungen, aber Klima und Energiewende. Mindestlohn, aber keine Aufweichung der Schuldenbremse. Am Ende können sich die drei ungleichen Partner darauf einigen, große Transformationsprozesse anzustoßen zu wollen. Von Klimawandel über Energiewende bis Digitalisierung, das Hausaufgabenheft der Ampel ist dick.

"Mehr Fortschritt wagen", so der Titel und Anspruch des ersten Ampel-Koalitionsvertrags. Was sich fortschrittlich liest, muss aber noch finanziert werden. Und nach konkreten Finanzierungsplänen, sucht man im Regierungsfahrplan der Ampel bislang vergebens. Wie soll das funktionieren? Einen Vorgeschmack liefert der neue FDP-Finanzminister Lindner in seiner ersten Amtswoche. 60 Milliarden Euro Corona-Nachtragshaushalt werden umgewidmet und dürfen jetzt auch für die Klimawende angezapft werden.

Die geräuschlose Machtübergabe

So wie die Regierungsbildung verläuft auch die Machtübergabe: geräuschlos. Statt Machtproben und Muskelspielen gibt die Union vertrauensvoll das Heft des Handels in die Hände der Ampel.

Die Union findet sich jetzt nach 16 Jahren Regierungsverantwortung in der Opposition wieder. Dass es mit der personellen Neuaufstellung, von Parteivorsitz bis Präsidium, nicht getan ist, hat die Partei verstanden. CDU und CSU wollen wieder Antworten auf die relevanten Fragen der Zeit liefern, da sind sich die Schwesterparteien einig. Ob das bereits schon innerhalb der kommenden vier Jahre gelingen kann, ist alles andere als sicher. Liberales und konservatives Lager haben sich in den letzten Jahren stark voneinander distanziert. Jetzt wo Macht und Merkel weg sind, braucht die Union einen neuen Klebstoff. Die Partei auf Linie zu bringen dürfte die schwierigste Aufgabe für den kommenden Parteivorsitz werden.

Und SPD, Grüne und FDP müssen jetzt liefern. Sich gegenseitig als Freundinnen und Freunde zu bezeichnen, reicht da nicht aus. Die ungleichen Ampel-Partner wissen das. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einem "sozialdemokratischen Jahrzehnt" und will das neue Dreierbündnis auch bei der kommenden Bundestagswahl zum Erfolg führen.

Ein Jahrzehnt wird die Ampel auch brauchen, um nur ansatzweise die von ihr angedachten Transformationsprozesse in politische Wirklichkeit umzuwandeln. SPD, Grüne und FDP sind zur Geschlossenheit verdammt. Im kommenden Jahr stehen jedoch bereits vier Landtagswahlen an. Wenn die Resultate für eine der Parteien nicht stimmen sollten, dürfte es bald auch auf der Bundesebene mit der vertraulichen Zusammenarbeit schwierig werden. Dann werden auch Freundschaftsbändchen nicht helfen.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL FERNSEHEN | 08. Dezember 2021 | 19:30 Uhr