Ein Mensch schleift seinen Besitz durch ein Flüchtlingslager. Darauf der Schriftzug "Gesagt, Getan".
In unserer Reihe "Gesagt, getan?" fragen wir nach dem Erfolg der Politik von Union und SPD in der zurückliegenden Legislaturperiode. Diesmal im Check: die Themen Asyl, Zuwanderung und Abschiebungen. Bildrechte: MDR/dpa

Koalitionsvertrag im Check | Teil 7 Asyl und Migration: Alles für die Obergrenze

25. August 2021, 10:00 Uhr

Die Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung zielte in den vergangenen Jahren darauf ab, die Zahl der Geflüchteten im Land möglichst niedrig zu halten. Ihre "Obergrenze" für irreguläre Zuwanderung hat die GroKo denn auch eingehalten. Viele Maßnahmen wirken allerdings unverhältnismäßig. Die großen Probleme blieben ungelöst, vor allem in Europa.

Alexander Laboda
Bildrechte: MDR/Markus Geuther

Die Zuwanderung war im Wahlkampf 2017 von so großer Bedeutung, dass die Regierungsbildung beinahe an einem einzigen Wort gescheitert wäre: Obergrenze. Monatelang stritten die Schwesterparteien CDU und CSU, ob man die Zahl der Asylsuchenden und Zuwanderer in einer Koalitionsvereinbarung deckeln soll beziehungsweise, ob das vom Grundgesetz her überhaupt möglich ist. Nach einer späten unionsinternen Einigung musste dazu auch mit der SPD mühevoll ein Kompromiss ausgehandelt werden.

Die Parteien einigten sich letztlich auf eine Art Richtwert. Das Wort Obergrenze fehlt. Die Original-Formulierung im Koalitionsvertrag ist acht Zeilen lang. Auch in stark gekürzter Fassung wirkt sie noch gestelzt:

Bezogen auf die durchschnittlichen Zuwanderungszahlen (...) stellen wir fest, dass die Zuwanderungszahlen (...) die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden.

Koalitionsvertrag von 2018

Verschiedene Maßnahmen sollten dafür sorgen, dass der Richtwert dauerhaft unterschritten wird. Eines der offenkundig wichtigsten Vorhaben ist die seit Langem angestrebte Reform der EU-Asylpolitik. Dazu heißt es im Koalitionsvertrag:

Wir treten für ein gemeinsames europäisches Asylsystem ein und beteiligen uns daher aktiv am Prozess der Reform des Dublin-Verfahrens. Ein fairer Verteilmechanismus für Schutzbedürftige, die Frage der Menschenrechte in Drittstaaten sowie das Prinzip der Zuständigkeit des Ersteinreiselandes für Asylbewerber müssen hierbei eine übergeordnete Rolle spielen.

Koalitionsvertrag von 2018

Union und SPD versprachen in ihrer Vereinbarung zudem unter anderem Folgendes:

  • sogenannte "AnkER-Einrichtungen". In diesen Erstaufnahmeeinrichtungen sollen Asylsuchende ankommen, eine Entscheidung über ihre Anträge fallen und gegebenenfalls auch ihre Rückführung veranlasst werden.
  • schnellere und einfachere Abschiebungen von Menschen, die keine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen haben.
  • ein Einwanderungsgesetz, das die legale Zuwanderung von beruflich qualifizierten Menschen regelt.

Inwieweit wurden all diese Vorhaben umgesetzt? Welche Probleme sind liegen geblieben?

Obergrenze eingehalten

Der Streit um die Obergrenze stellte sich im Nachhinein als überflüssig heraus. In den vergangenen Jahren lag die Zahl der Asylsuchenden, die einen Erstantrag stellten, stets weit unter dem Richtwert – zumal etwa Rückführungen noch gegengerechnet werden sollten.

2018 wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zwar immerhin noch gut 160.000 Erstanträge gestellt. Bis 2020 sank die Zahl allerdings auf nur noch rund 102.000 Anträge – so wenige wie seit 2012 nicht mehr.

Keine Einigung in der EU-Asylpolitik

Deutschland gehört weiterhin zu den Staaten, die innerhalb der EU im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl die meisten Asylsuchenden aufnehmen – gemeinsam mit Ländern wie Spanien, Frankreich, Österreich, Belgien, Schweden und vor allem Griechenland. Der angestrebte "faire Verteilmechanismus" existiert nach wie vor nicht.

Die EU-Kommission legte allerdings im September 2020 nach langer Blockade einen neuen Vorschlag für ein Migrations- und Asylpaket vor. Das umfangreiche Vorhaben sieht unter anderem vor, dass Staaten auch dadurch ihren europäischen Beitrag leisten können, indem sie andere Staaten bei der Abschiebung abgelehnter Asylsuchender unterstützen. Damit geht die Kommission auf Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn zu, die grundsätzlich möglichst wenige Flüchtlinge und Migranten aufnehmen wollen.

Einige Punkte des Pakets sind in der Umsetzung. Zum Beispiel soll eine Europäische Asylagentur geschaffen werden, die Mitgliedsstaaten künftig bei der Bearbeitung von Asylanträgen unterstützt und mehr Einheitlichkeit herstellt. Der große Wurf gelang jedoch noch nicht. Die Staats- und Regierungschefs sowie das EU-Parlament verständigten sich bislang auf keine weiteren Schritte.

Währenddessen kommen weiterhin Migranten bei der gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben. Die EU verfolgt noch kein wirksames Konzept zu ihrer Rettung. Private Seenotretter haben allein in den vergangenen Wochen Hunderte oder gar Tausende Menschen aus dem Wasser geholt, sind mit der Aufgabe aber überfordert. Sie finden zudem häufig keine sicheren Häfen, in denen die Menschen aufgenommen werden.

Die im Koalitionsvertrag angesprochenen Menschenrechte werden so nicht gewahrt. Das gilt im Übrigen auch für die Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. Das abgebrannte Lager in Moria ist dafür zu einem Sinnbild geworden.

"AnkER-Zentren" weiter umstritten

Mit den "AnkER-Zentren" schaffte es ein weiteres Anliegen der CSU im Bereich Asyl in den Koalitionsvertrag. Das Akkronym steht für Ankunft, Entscheidung und Rückführung. Grundidee war und ist, dass verschiedene Behörden an einem Ort zusammengezogen werden, um schneller über die dort zentral untergebrachten Asylsuchenden zu entscheiden.

Die ersten "AnkER"-Zentren wurden zum 1. August 2018 gegründet. Nach Angaben des Bamf entstanden bis 2021 an insgesamt 17 Standorten solche Einrichtungen, die zum Teil lediglich als "funktionsgleich" bezeichnet werden. Allein sieben der Zentren stehen heute in Bayern. Acht Bundesländer setzten das Konzept bis heute nicht um, darunter Thüringen und Sachsen-Anhalt. Demgegenüber zählte Sachsen zu den Unterstützern der Idee und betreibt in Dresden ein "AnkER-Zentrum".

In einem Evaluationsbericht lobt das Bamf die Fortschritte. Die durchschnittliche Dauer eines Asylverfahrens habe in den Einrichtungen um fünf Tage verkürzt werden können, von 82 auf 77 Kalendertage. Außerdem sei die Zahl der Abschiebungen und Überstellungen an andere EU-Staaten gesteigert worden. Zu freiwilligen Ausreisen heißt es in dem Bericht: "Personen, die zur Ausreise verpflichtet sind, treffen in (...) Einrichtungen im Durchschnitt 37 Kalendertage früher eine freiwillige Rückkehrentscheidung als ausreisepflichtige Personen an den anderen Standorten."

Das wiederum könnte an den Zuständen in den Zentren liegen. Die werden von Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen heftig kritisiert. In einem Aufruf vom 27. Juli 2021 fordern mehr als 60 Verbände und NGOs sogar die Abschaffung der Zentren. In dem Papier heißt es, die Bedingungen dort verletzten die Würde der Menschen. Wörtlich steht darin:

AnkER-Zentren führen vielfach zu Isolation, Entrechtung und Ausgrenzung.

Aufruf von Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen im Juli 2021

Abschiebungen erleichtert

Weiteres Vorhaben der Regierung: Es sollten mehr Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus aus Deutschland abgeschoben werden. "Ziel ist, die Zuführungsquoten zu Rückführungsmaßnahmen deutlich zu erhöhen", steht im Koalitionsvertrag.

Zu diesem Zweck zog die Regierung an mehreren Hebeln. So trat bereits 2019 das sogenannte "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" in Kraft. Es sieht unter anderem Sanktionen für Menschen vor, die mit ungeklärter Identität in Deutschland geduldet werden, aber an der Beschaffung ihrer Ausweispapiere nicht mitwirken. Zu den Sanktionen zählen etwa Wohnsitzauflagen, Beschäftigungsverbote und Bußgelder. Außerdem erleichterte die GroKo die Voraussetzungen für Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam.

Die Bundesregierung erklärte darüber hinaus 2019 Algerien, Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsstaaten. Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern werden leichter abgelehnt und sie können einfacher abgeschoben werden. Die Regierung hielt zudem trotz Kritik daran fest, Menschen nach Afghanistan abzuschieben.

Entgegen der Maßnahmen blieb die Zahl der Abschiebungen in den vergangenen Jahren in absoluten Zahlen konstant. 2019 wurden nach Angaben der Bundesregierung 22.097 Menschen abgeschoben; 2018 und 2017 waren es jeweils mehr als 23.000. Im Corona-Jahr 2020 ging die Zahl stark zurück auf 10.800 Abschiebungen.

Die Zahl der ausreisepflichtigen Menschen, die in Deutschland leben, nahm in der aktuellen Regierungsperiode zu. Dem "Mediendienst Integration" zufolge lebten 2020 insgesamt 281.143 Personen in Deutschland, die entweder nur geduldet wurden oder als "unmittelbar ausreisepflichtig" galten. Im Jahr der Bundestagswahl 2017 waren es 228.859. Allerdings nahm die Zahl der unmittelbar ausreisepflichtigen Personen in dieser Zeit ab.

Linke und Grüne argumentieren, dass es ohnehin verfehlt sei, nur auf die Zahl der Abschiebungen zu schauen. Vielmehr müssten für ausbildungs- und integrationswillige Menschen Möglichkeiten geschaffen werden, einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu erreichen.

Schritte in diese Richtung ging die Regierung: Das 2020 in Kraft getretene "Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung" sieht vor, dass Ausreisepflichtige unter Umständen eine Lehre oder Arbeit aufnehmen können. In der Zeit der Ausbildung können sie dann nicht abgeschoben werden. Das bereits 2019 umgesetzte "Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz" erleichtert Geflüchteten und Ausländern im Allgemeinen den Zugang zu Sprachkursen und anderen Ausbildungsförderungen.

Einwanderungsgesetz: Erste Fachkräfte da

Für Menschen aus dem Nicht-EU-Ausland den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern – genau das ist auch Ziel des "Fachkräfteeinwanderungsgesetzes", das im März 2020 in Kraft trat.

Menschen mit einer Berufsausbildung werden durch das Gesetz mit Menschen mit Hochschulausbildung bei der Jobsuche in der Bundesrepublik gleichgestellt. Die sogenannte Vorrangprüfung fällt weg. Arbeitgeber müssen nicht mehr nachweisen, dass es keine deutschen oder europäischen Bewerber gibt. Auch das Dauerthema der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse sollte angegangen werden und Regelungen vereinfacht.

In diesem Frühjahr zog die Bundesregierung ein Jahr nach Inkrafttreten eine positive Zwischenbilanz. Im Zeitraum von März bis Dezember 2020 seien 30.000 Visa an qualifizierte Fachkräfte und Auszubildende aus Drittstaaten erteilt worden – trotz Pandemie. Das Gesetz werde künftig noch eine stärkere Wirkung entfalten, zeigte sich die Regierung überzeugt.

Sehr fraglich ist, ob jährliche Zuzüge in dieser Größenordnung ausreichen werden, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Denn in Deutschland bleiben schon heute viele Stellen mangels qualifizierter Bewerber unbesetzt. So fehlten nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln im Mai dieses Jahres etwa 269.000 qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland. Und das Bundeswirtschaftsministerium veröffentlichte Vorausberechnungen, wonach die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schon bis zum Jahr 2030 um 3,9 Millionen sinken wird.

Fazit: Große Fragen ungelöst

"2015 darf sich nicht wiederholen" – dieses Mantra hat die Regierung in den vergangenen Jahren gesungen. In der Asyl- und Migrationspolitik zielten fast alle Gesetze und Neuregelungen darauf, die Zahl der Asylsuchenden zu begrenzen, irreguläre Zuwanderung zu verhindern und Abschiebungen zu erleichtern. Alles für die Obergrenze, die so nicht heißen durfte, aber schließlich stets eingehalten wurde.

Union und SPD setzten weitgehend um, was sie angekündigt hatten. Aufwand und Ertrag stehen dabei aber oft in keinem Verhältnis. In den neuen "AnKER-Zentren" zum Beispiel wurde die Bearbeitungszeit von Asylanträgen zwar geringfügig verkürzt. Das ging aber auf Kosten der Geflüchteten, deren Unterbringung für viele immer traumatisierender wird.

Ein anderes Beispiel ist das "Fachkräfteeinwanderungsgesetz". Jahrzehntelang wurde über ein modernes Zuwanderungsrecht diskutiert. Die GroKo weitet in ihrem Gesetz aber lediglich bestehende Regelungen aus und baut einige Hürden ab. Ein paar tausend qualifizierte Menschen, die das angelockt hat, schließen die wachsenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt aber bei Weitem nicht. Könnte es sein, dass sich Deutschland vielleicht gar aktiv um die klugen Köpfe und fleißigen Hände auf der Welt bemühen muss?

Knackpunkt Außenpolitik

Die großen Fragen und Probleme blieben insgesamt ungelöst. Die gemeinsame solidarische EU-Asylpolitik wird Angela Merkel voraussichtlich auch bis zum Ende ihre Kanzlerschaft nicht auf den Weg gebracht haben. So sind die Zustände an den EU-Außengrenzen und in den Flüchtlingslagern im Süden gleich geblieben, auf den Fluchtrouten sterben nach wie vor viele Migranten.

Die Frage der Bekämpfung der Fluchtursachen – auch das ein großes Thema im Wahlkampf 2017 – lagerte die GroKo in eine Expertenkommission aus. Die lieferte ihren Bericht erst im Mai dieses Jahres. Die Fachleute fordern unter anderem eine international gerechtere Wirtschaftspolitik sowie Investitionen in soziale Sicherung, Bildung und Gesundheit in den Herkunftsländern von Geflüchteten. Außerdem soll Deutschland der Kommission zufolge gemeinsam mit anderen willigen Ländern ein dauerhaftes Programm starten, "um besonders schützenswerte Personen, wie Frauen, Kinder und Opfer sexualisierter Gewalt auf geordnetem Weg aufzunehmen". Für die Umsetzung bleibt bis zur Wahl keine Zeit. Über die Vorschläge muss also die künftige Regierung entscheiden.

Quelle: MDR

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL - Radio | 26. September 2021 | 18:00 Uhr

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