Interview Wie sich das Wahlverhalten der Deutschen verändert hat

13. September 2021, 13:00 Uhr

In zwei Wochen ist Bundestagswahl – die kurze Zeit bis zum Wahlabend bleibt spannend bis zum Schluss. Welche Partei wird stärkste Kraft? Und welche Partei kann die errungenen Prozente am wirksamsten in politische Macht umwandeln? Das ist teilweise schwer abzusehen, denn das Wahlverhalten der Deutschen hat sich geändert, schätzt die Politikwissenschaftlerin und Historikerin von der Universität Bonn, Julia Reuschenbach ein.

MDR AKTUELL: Frau Reuschenbach, haben Sie uns allen etwas voraus? Sind Sie sich schon sicher, wie die Wahl ausgehen wird?

Julia Reuschenbach: Nein, das habe ich tatsächlich nicht. Wie die allermeisten von uns beobachte ich mit großer Spannung, was da gerade stattfindet. Und in der Tat sehen wir, dass in diesem Jahr noch mal deutlich mehr Bewegung in den Umfragen in den letzten Monaten und Wochen vor der Bundestagswahl zu sehen ist. Insofern: So wie die Bewegungen der letzten Wochen waren, können Sie natürlich auch in den nächsten zwei Wochen noch stattfinden. Und da ist tatsächlich an vielen Stellen fast noch alles offen.

MDR AKTUELL: Bei der Bewegung kann man ja auch einen leicht anderen Eindruck haben. Es war große Bewegung in den letzten Monaten. Aber wenn wir uns jetzt nur mal die letzten zwei, drei Wochen angucken, dann haben wir ja doch einen Trend und auch Zahlen von verschiedenen Demoskopie-Instituten, die relativ ähnlich sind. In der Spitze liegt die SPD mit etwa 25 bis 26 Prozent, die CDU dahinter mit 21, 22 Prozent. Die Grünen kommen dann mit 16, 17, dann folgen die AfD und die FDP mit zehn bis zwölf Prozent. Ist der Eindruck falsch, dass sich eine gewisse Stabilität auf den letzten Metern des Wahlkampfs einschleicht?

Reuschenbach: Nein, der ist sicherlich nicht falsch. Ich würde es noch nicht Stabilität nennen, sondern vielleicht eher: Es zeichnet sich inzwischen so ein leichter Trend ab. Aber ich wäre da auch trotzdem noch vorsichtig und zurückhaltend. Denn wir wissen zum Beispiel – wenn wir jetzt mal auf die aktuell eher schlechten Umfragen der Union schauen – dass, wenn man sich die Stammwählerpotenziale der Union anschaut, durchaus also zwischen 19 und 25 doch eine gewisse Spannbreite liegt, es womöglich auch für etwas mehr reichen könnte.

Insofern ist es aus Sicht der Union tatsächlich so, dass einem ein wenig die Zeit zwischen den Fingern davonrinnt.

Julia Reuschenbach Universität Bonn

Wir wissen auch noch nicht sicher, wie es um die Linke steht, ob lediglich mit den drei Direktmandaten der Einzug in den Bundestag gelingt oder ob sie es prinzipiell über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen wird. Da sind an vielen Stellen noch Unklarheiten drin.

Andererseits gilt aber auch, was wir aus der Wahlforschung wissen: Wir haben die Briefwahl begonnen und je näher wir dem Wahltag kommen, desto mehr Wählerinnen und Wähler haben ihre Entscheidung bereits getroffen. Die Zahl der Unentschlossenen nimmt in Richtung des Wahltags immer weiter ab. Insofern ist es aus Sicht der Union tatsächlich so, dass einem ein wenig die Zeit zwischen den Fingern davonrinnt – um diejenigen, die eben noch nicht entschieden sind, für sich zu gewinnen beziehungsweise um die eigenen Leute zu mobilisieren, dass sie tatsächlich auch zur Wahl gehen.

MDR AKTUELL: Sind die Deutschen grundsätzlich unberechenbarer geworden? Wie wichtig sind dann Spontanwähler, die momentan vielleicht noch nicht wissen, wo sie am Ende ihr Kreuz machen werden?

Reuschenbach: Was wir beobachten können, wenn man sich die vergangenen Bundestagswahlen anschaut, ist in der Tat, dass wir mehr sogenannte Wechselwähler haben, die also von der einen zur anderen Wahl unterschiedlichen Parteien ihre Stimme geben. Auch da muss man aber meines Erachtens ein bisschen entgegentreten. Denn wir wissen aus der empirischen Forschung auch, dass immer noch zwei von drei Wählerinnen und Wähler von sich sagen, sie haben eine Parteiidentifikation. Das heißt, wir haben durchaus schon noch solche Bindungskräfte.

Aber in der Tat merken wir, dass die großen Parteien in den letzten Jahren weniger Stimmen auf sich vereinigen konnten und gleichzeitig ist das Wahlverhalten zu erforschen oder zu beschreiben ein sehr komplexes Thema. Denn für eine Wahlentscheidung wirken ja ganz unterschiedliche Faktoren. Das reicht von der Frage, aus welchem Milieu man stammt und welche Milieubindungen heute überhaupt noch existieren. Bis zur Frage, wenn man etwa einmal auf die Wahl 2017 schaut, wo wir überraschenderweise im Nachhinein feststellen konnten, dass für viele Wählerinnen und Wähler die Frage nach den Koalitionsoptionen, also ein eher strategisch taktisches Wählen, wichtiger war als beispielsweise die Kandidatinnen- und Kandidaten-Frage, also die Frage nach dem oder der Spitzenkandidatin.

Und wir wissen eben nicht im Vorfeld – auch das müssen Politikwissenschaftler aushalten und die Demoskopen genauso – mit welchem dieser Faktoren Wählerinnen und Wähler in dem Moment, in dem sie dann ihr Kreuzchen machen, tatsächlich auf den Stimmzettel schauen. Ich will nicht sagen, es ist eine Blackbox. Aber es ist zumindest etwas, das wir im Vorfeld einer Wahl fast gar nicht erfassen können.

MDR AKTUELL: Grünen-Co-Parteichef Robert Habeck hat mehrfach gesagt, er sehe eigentlich keine ganz großen und keine kleinen Parteien mehr, sondern ein Konglomerat aus mehreren mittelgroßen Parteien, die künftig die politische Landschaft prägen würden. Hat er damit Recht? Denn wir sehen ja jetzt gerade diesen Abstieg der CDU. Die SPD hat ihn schon lange hinter sich. Wird das auch so eine dauerhafte Entwicklung sein?

Reuschenbach: Tendenziell sieht es momentan eher so aus, dass wir das noch fortlaufend erleben werden. Wir sind inzwischen doch sehr weit weg von diesem zweieinhalb Parteiensystem, das die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg geprägt hat. Was man dabei auch sehen kann, ist, dass wir immer noch Mehrheiten in der Mitte haben und nicht an den Rändern des Parteiensystems. Also die Mehrheit der Wähler schart sich um einen gemäßigten und auch in den Positionen nicht fundamental auseinanderliegenden Kern in der Mitte des Parteiensystems.

Aber sicherlich ist der aussagekräftigste Befund dieser Entwicklung ein Rückgang der Bindungskräfte und damit auch der Größe im Blick auf das Stimmenverhältnis der sogenannten Volksparteien. Der Status, dass man sehr breite Wählergruppen und Schichten ansprechen möchte, dass man versucht, viele unterschiedliche Interessen und soziale Gruppen unter einem Dach einer Partei zu vereinen, das geht zurück. Das hat die SPD etwas früher ereilt als die Union. Aber auch wenn man tatsächlich auf die Fakten, also auf die Ergebnisse der Union schaut, sieht man, dass dieser Prozess dort auch bereits begonnen hat und nicht jetzt gerade mit Armin Laschet erst womöglich eingetreten ist. Da hat die erfolgreiche Kanzlerin, dieser Personalfaktor Merkel, das vielleicht ein Stück weit auch nach außen überspielen können.

Die Mehrheit der Wähler schart sich um einen gemäßigten und auch in den Positionen nicht fundamental auseinanderliegenden Kern in der Mitte des Parteiensystems.

Julia Reuschenbach Universität Bonn

Aber auch da sieht man: Der Union gelingt es immer weniger, diese Bindungskräfte zu entwickeln. Insofern entsteht dann natürlich auch ein gewisser Druck auf dem "Koalitionsmarkt". Im Umkehrschluss heißt das, wenn man Wahlen in Deutschland künftig mit unter 30 Prozent gewinnt, man mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit in einer Dreierkoalition regieren muss. Das fordert den Parteien natürlich auch wesentlich größere Kompromisse ab, die sie auch inhaltlich eingehen müssen. Sie müssen unüberwindbare Gräben der Vergangenheit dann doch überwinden, um überhaupt regierungsfähig zu sein.

MDR AKTUELL: Kann es sein, dass die Parteien da unterschiedliche Lernprozesse durchlaufen, dass also die einen diesen Lernprozess verinnerlicht haben? Und dass die CDU diesen Lernprozess noch vor sich hat?

Reuschenbach: Das würde ich in Teilen so unterschreiben. Und sicherlich ist damit auch verbunden, dass die Union in den nächsten Jahren in der Regierung oder gar in der Opposition ein Stück weit einen Erneuerungs- oder Definierungsprozess durchlaufen muss. Was macht sie als Partei aus? Was ist der Markenkern? Ich würde auch denken, dass die Union gut beraten wäre – sollte sie die Regierung stellen können – sich nicht wieder in ein typisches Muster des erfolgreichen Regierungshandelns zu begeben. Auch in der Regierungssituation sollte sie den parteiinternen Erneuerungsprozess fortsetzen, den Annegret Kramp-Karrenbauer angestoßen hat, um nicht wieder an die Stelle zu geraten, an der man sich offenkundig jetzt gerade befindet: Sich auf einer erfolgreichen Kanzlerin auszuruhen und die Kernarbeit der Partei zu vernachlässigen.

MDR AKTUELL: Nehmen wir mal an, es kommt so, dass es drei Parteien gibt, die knapp über oder knapp unter der 20-Prozent-Marke landen. Und vielleicht zwei Parteien, die irgendwo zwischen zwölf und 15 Prozent liegen. Kann man dann sagen, dass wir Wähler diese Bundestagswahl zu einem endgültigen Bruch mit der deutschen Parteiengeschichte gemacht haben?

Reuschenbach: Das ist eine sehr dramatische Formulierung. Wir erleben eine Entwicklung, die gesellschaftliche Entwicklungen abbildet. Und dass das dann irgendwann auch das Parteiensystem einer Demokratie erreicht, halte ich erst einmal für einen normalen Prozess. Taktisches Wählen wird nicht unbedingt einfacher, weil sehr viele unterschiedliche Bündnisse möglich sein werden. Aber ich würde auch nicht ausschließen, dass womöglich in der Zukunft auch noch mal ein Zweierbündnis eine Mehrheit findet. Tendenziell sehen wir, dass es eher in Richtung einer Fragmentierung geht, also Mehrparteienkoalitionen. Es ist dieses Jahr mit Blick auf das Ende einer so langen Kanzlerschaft eine etwas exponierte Situation. Da würde ich jetzt noch nicht wagen, für eine Bundestagswahl in vier Jahren zu prognostizieren, dass das dann genauso weitergeht, wie es dieses Jahr ausgeht.

Das Interview führte Hanno Griess, MDR AKTUELL Radio

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 12. September 2021 | 11:09 Uhr

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