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Nach AfD-Erfolg vor vier JahrenWie die Parteien vor der Bundestagswahl um Stimmen der Landbevölkerung ringen

23. September 2021, 19:05 Uhr

Die aktuelle Bundesregierung wollte sich stärker um den ländlichen Raum kümmern – wohl auch, weil gerade im Osten Deutschlands die AfD dort vor vier Jahren besonders stark abschnitt. In Sachsen-Anhalt kämpfen nun Sepp Müller (CDU), Katrin Budde (SPD) und Jan Wenzel Schmidt (AfD) um die Stimmen der Landbevölkerung zwischen Wittenberg, Hettstedt und Oebisfelde.

Berlin Hauptbahnhof, der Montag vor der Bundestagswahl, 17:28 Uhr. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Sepp Müller steigt in den ICE. Vormittags hat er SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Finanzausschuss zu den Geldwäsche-Ermittlungen ausgefragt. Jetzt will Müller zur Sitzung seines Kreisverbandes. Nächster Halt: Lutherstadt Wittenberg. 40 Minuten Fahrzeit. Nochmal 30 Minuten, und man wäre in Leipzig.

Dank ICE-Anbindung und niedriger Grundstückspreise blüht Wittenberg auf

"Zentral inmitten von Zentren", so sieht sich Wittenberg selbst. "Vorort von Berlin", sagt Müller. Ginge es nach ihm, könnte das Mietenproblem der deutschen Hauptstadt noch eine Weile andauern. Wittenberg profitiert seit Jahren vom Zuzug.

Der Leerstand gehe extrem nach unten, Baugrund sei knapp geworden. Müller freut das. Die jungen Menschen würden das schwächelnde Vereins- und Kulturleben in Wittenberg wiederbeleben. Lange sah es nicht danach aus.

Müller ist ein paar Kilometer weiter in Gräfenhainichen aufgewachsen. Mit dem Ende des Kohletagebaus brachen 15.000 Jobs weg, die Stadt schrumpfte um fast die Hälfte ihrer Einwohner. Schulen und Arztpraxen schlossen. In Wittenberg leitete der heutige CDU-Ministerpräsident, Reiner Haseloff, das Arbeitsamt und verwaltete "Strukturwandel ohne Geld", wie es Müller nennt. Er selbst war da noch ein Kind.

Bei der auch von der Migrationskrise geprägten Bundestagswahl 2017 holte die AfD dann 19,6 Prozent im Land. Besser schnitt sie nur noch in Sachsen und Thüringen ab. Für die alte und neue schwarz-rote Bundesregierung war das ein Weckruf. Man begann, sich verstärkt um den "ländlichen Raum" zu bemühen. 2019 wurden 40 Milliarden Euro Hilfen für den Strukturwandel in den auslaufenden Braunkohlerevieren beschlossen. Geld, das neben Nordrhein-Westfalen auch in das ländliche Sachsen und Sachsen-Anhalt geht.

CDU setzt auf Strukturwandel-Milliarden und Gewerbesteuer-Neuregelung

Ein Erfolg der CDU, durchgesetzt von Reiner Haseloff und Armin Laschet, so Sepp Müller. Seit 2020 ist auch das Förderprogramm für den ländlichen Raum gesamtdeutsch ausgerichtet – und bekommt so mehr Aufmerksamkeit. Der Bund habe zudem die Kommunen bei den kostspieligen Unterkunftsleistungen für Sozialhilfeempfänger entlastet. Mit Bundesmitteln wurden Turnhallen im Wahlkreis saniert.

Nun hofft Müller, dass sich Haseloff ein zweites Mal durchsetzt. Auf einer Pressekonferenz mit Laschet verkündete Haseloff am Montag, die CDU sei für eine Neuregelung der Gewerbesteuerzerlegung. Ein hoch komplexes Vorhaben, dessen Anliegen an sich leicht zu erklären ist: Steuern sollen dort gezahlt werden, wo sie erwirtschaftet wurden – und wo Kommunen Straßen, Kitas und Schulen für Betriebe und deren Mitarbeitende finanzieren. Derzeit zahlen noch viele Unternehmen ihre Steuern am oft westdeutschen Verwaltungssitz, wo sich bis heute die meisten der großen Unternehmen befinden.

Müller sagt, für diese Idee habe es bislang keine Mehrheit in der CDU gegeben. Die Forderung schaffte es nicht ins Wahlprogramm. Derweil muss er sich um kleinteiligere Probleme kümmern. Gerade sucht er eine Englisch-Lehrkraft für die Grundschule seines Sohnes. Zwei Landärzte will er schon gefunden haben. Noch schließt der Zuzug also nicht jede Lücke.

2021 kämpft die SPD auch außerhalb der Großstädte um Direktmandate

Zwei Tage später muss Katrin Budde zumindest ihre Wähler nicht lange auf dem Marktplatz von Hettstedt suchen. "Hoffentlich klappt’s", ruft man ihr zwischen Gürtelschnallen, Schnittblumen und Bison-Wurst zum SPD-Stand entgegen. Während Sepp Müller sein Direktmandat in Wittenberg wohl sicher hat, könnte Budde den Wahlkreis Mansfeld-Südharz der CDU abluchsen – wenn die AfD als dritte Kraft nicht dazwischen kommt. 2017 kam die AfD hier sogar auf 23,9 Prozent der Zweitstimmen.

"Manchmal braucht es einen Schock, damit die gesamtdeutsche Aufmerksamkeit auf einen fällt", sagt Budde. Sie kam über die Landesliste nach Berlin. Ihr Flyer listet die Bundesmittel auf, die sie seitdem hierher geholt hat: 160.000 Euro für eine Dauerausstellung im Novalis-Geburtshaus, 4,3 Millionen für eine Kleinstadtbibliothek, 85 Millionen für das Umweltdatenzentrum in Merseburg. Etwa 200 Millionen Euro insgesamt. Geld, das vor allem fließe, weil sie sich mit ihren Kontakten dafür einsetze, so Budde.

Die 52-jährige Ingenieurin war lange die starke Frau der SPD in Sachsen-Anhalt – bis die AfD hier aufschlug und die SPD bei der Landtagswahl 2016 fast unter zehn Prozent fiel. Wenig später traten die Genossen aus dem Mansfelder Land an die Magdeburgerin heran: "Die SPD fehlt hier, Katrin." Im gesamten Wahlkreis hatte die Partei weniger als 250 Mitglieder und weder einen Landtags- noch einen Bundestagsabgeordneten.

Das größte Problem ist die Mischung aller Probleme, sagt Katrin Budde

Was allerdings auch Budde nicht beschaffen kann: eine Metropole hinter den Bergen. Hettstedt ist Vorort von niemandem und nichts. Die Region hat die schlechteste Entwicklungsprognose in ganz Sachsen-Anhalt. Vom schlagartigen Verlust der künstlich aufgepäppelten DDR-Kupferindustrie hat man sich bis heute kaum erholt.

Es fehlt an Lehrerinnen, Ärzten, Breitbandanschlüssen, vernünftigen ÖPNV-Anbindungen bis ins letzte Dorf, weiterhin an Jobs und an den abgewanderten Generationen der 20- bis 50-Jährigen. "Das größte Problem ist die Mischung aus allem", sagt Budde.

Mit den Strukturwandel-Milliarden müssten jetzt dringend neue Jobs geschaffen werden, in der Industrie und im Kulturtourismus. Schließlich gebe es auch viele Potenziale, so Budde. "Wir haben Bauland für junge Familien. Wir haben Schulen und Kitas. Und wir haben Regionalbahnen, die Sie zum ICE bringen." Die würden auch bei Schnee und Frost fahren.

AfD versucht es 2021 in Sachsen-Anhalt ohne Schockpotenzial

Derweil will der Schocker von 2017 keiner mehr sein. Die AfD inszeniert sich im Bundestagswahlkampf 2021 freundlich-konstruktiv: "Deutschland, aber normal." Verkörpert wird das in Sachsen-Anhalt von Jan Wenzel Schmidt, Kandidat für den landwirtschaftlich geprägten Wahlkreis Börde – Jerichower Land.

Um von einer Ecke des Wahlkreises in die andere zu kommen, braucht man mit dem Auto anderthalb Stunden – wenn die Straßen frei sind. "Es gibt Dörfer, von deren Existenz wusste man vorher nichts, weil sie so abgelegen sind", sagt Schmidt am Telefon, nachdem er gerade an einem Infostand in Oebisfelde nahe der niedersächsischen Grenze war.

Der 29-jährige Handelsfachwirt saß bis vor Kurzem im Magdeburger Landtag und fiel dort nicht mit scharfen Reden auf. Wegen verschiedener extrem rechter Kontakte taucht sein Name aber mehrfach im Gutachten des Verfassungsschutzes über die AfD auf.

Bestimmendes Thema für Jan Wenzel Schmidt: Kampf gegen CO2-Abgabe

Für den ländlichen Raum fordert Schmidt Lockerungen beim Denkmalschutz, Baugelder und Kredite für junge Familien, damit diese Neubauten oder besser noch sanierte Landhäuser zu ihrem neuen Zuhause machen. "Ein Mietendeckel hilft da nicht", so Schmidt. Auch er will eine Reform der Unternehmenssteuer und weniger Bürokratie für Heimat- und Sportvereine. Im Wahlprogramm seiner Partei wird das teils nur grob umrissen.

Vor allem aber richtet sich Schmidts AfD gegen die CO2-Steuer und damit gegen steigende Spritpreise. Schmidt nennt die Abgabe "irrational". Für ihn ist sie symptomatisch für die Politik der Bundesregierung. Die konzentriere sich weiterhin auf die Großstädte "und verschlechtert mit ideologischer Politik die Situation hier". Viele Gemeinde hätten Probleme, die Fördermittel abzurufen. Es herrsche Stagnation, meint Schmidt.

Letzteres lässt sich kurz vor der Bundestagswahl auch über die Umfragewerte der AfD sagen. Ihr Zuspruch ist seit 2017 kaum kleiner geworden. Gewachsen ist er aber auch nicht. 

Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Über den AutorThomas Vorreyer arbeitet seit Herbst 2020 für MDR SACHSEN-ANHALT. Seine Schwerpunkte sind Politik, Gesellschaft und investigative Recherchen. Er ist in der Börde und in Magdeburg aufgewachsen, begann anschließend ein Politikstudium in Berlin. Zuletzt hat er als Redakteur und Reporter beim Online-Magazin VICE.com gearbeitet. In Sachsen-Anhalt ist er am liebsten an Elbe, Havel oder Bode unterwegs.

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MDR/Thomas Vorreyer

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 25. September 2021 | 19:00 Uhr

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