Neuer Ministerpräsident "Mehr Schaukeln für dicke Kinder!"

06. Mai 2016, 10:02 Uhr

Parks in der Stadt, aktiv gelebte Willkommenskultur und zu jeder Tages- und Nachtzeit trifft man Menschen: Meine Heimatstadt Leipzig liegt nicht in Sachsen-Anhalt. Und nun reise ich als Praktikantin ein paar Tage durch das Land der Frühaufsteher, in dem fast jeder Vierte die AfD in den Landtag gewählt hat. Es geht vor allem um die Frage: Was erwarten die jungen Menschen vom alten und neuen Landesoberhaupt? Eine Reise, fünf Städte.

Magdeburg: Willkommen auf der Therapeutencouch

  • Zeit: quälende zweieinhalb Stunden
  • geantwortet haben: vorwiegend männliche Studenten
  • Fazit: ernüchternd. Eine Umfrage mit Politikhintergrund ist hier in etwa so einfach, wie Menschen nasse Waschlappen zu verkaufen.

"Ja, machen wir, das mit dem AfD-Vizepräsidenten", so der Landtag in Magdeburg. Und in eben jener Stadt beginne ich meine Tour, bewaffnet mit Smartphone und Selfie-Stick. Ich bin neu in diesem Bundesland und will wissen, was die Menschen hier nach der Wahl von ihrem Häuptling der Landespolitik erwarten. Schnell stelle ich dabei fest: Politisch aus dem Fenster lehnen will sich hier kaum einer. “Meckern ja – aber so öffentlich in einer Umfrage dann doch nicht", ist die häufigste Ausrede. Ein zumindest nett gemeinter Tipp lautete: "Frag lieber was zum 1. FC Magdeburg, da hat jeder eine Meinung!" Stattdessen schildern mir Menschen ihre Lebensgeschichte mit Hochs und Tiefs. Kann die Politik da was dran ändern?

Aber das kann doch nicht alles sein, liebes Magdeburg. Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft verkaufen, dass ihr euch die nächsten fünf Jahre eine Papiertüte über den Kopf zieht, frei nach dem Motto: Wird schon irgendwie gehen. Aber ein paar Themen habt ihr dann doch auf Lager: WLAN, AfD und DDR.


Halle: "Das Käsebrot ist für dich, damit du nicht verhungerst."

  • Zeit: zweieinhalb Stunden, dazwischen Regenpause
  • geantwortet haben: Studenten, viele Studenten. Auszubildende. Zumindest waren genug junge Menschen da.
  • Fazit: Oh, endlich einen AfD-Wähler getroffen.

"In Halle wohnen? Bloß nicht!" - so die Einstellung der Durchschnitts-Magdeburger. Der erste Mensch, der mir in Halle begegnet, drückt mir noch in der Tiefgarage ein Käsebrot in die Hand und wünscht mir viel Erfolg in dieser Stadt. Die Hallenser lassen sich filmen und sagen halbwegs bereitwillig, was sie sich vom neuen Ministerpräsidenten wünschen: Mehr Geld für Bildung, mehr Geld für Kultur und der ein oder andere möchte auch mehr Geld für Deutsche statt für Geflüchtete.


Zeitz: Bisschen tot hier.

  • Zeit: 2 Tage
  • getroffen habe ich: wenige Menschen, eine Ratte, zwei Mäuse
  • Fazit: Das nächste Mal lieber eine Lost-Place-Tour

Tag 1: Der Bär steppt woanders. Sowohl der Alt- als auch der Neumarkt sind menschenleere Wüsten.

Tag 2: Zuerst renne ich hochmotiviert auf einen jungen Mann gleich hinter dem Bahnhof zu. Endlich ein junger Mensch! Jedoch stellt sich schnell heraus: Er ist 16, durfte also noch nicht wählen und fällt damit nicht in meine Umfrage-Zielgruppe. Nahezu entgeistert schaut er mich an, weil ich ihn sieze und für 20 halte. Im nächsten Satz schätzt er mich auf 17. Ich bedanke mich trotzdem, wünsche ihm einen schönen Tag und stelle ab jetzt zehn Kerzen weniger auf meine Geburtstagstorte.

Außerdem begegne ich noch: fünf Menschen. (Die erst seit wenigen Wochen in Zeitz leben und denen ich auf Englisch versuche zu erklären, was ich möchte. Leider ist die Sprachbarriere höher als das gegenseitige Verständnis.) Dann traf ich eine Ratte, zwei Mäuse und jede Menge Abrisshäuser. Falls man mal keinen Bock auf Menschen hat, wüsste ich da jetzt einen Ort.


Bitterfeld: "Hier läuft alles schief, ich ziehe weg!"

  • Zeit: dreieinhalb Stunden
  • Befragte: junge Mütter und Menschen, die demnächst wegziehen
  • geantwortet hat: keiner
  • Fazit: Ich hoffe, ich sehe Menschen in dieser Welt - damit ich sie nicht in Bitterfeld suchen muss.

Zug von Leipzig nach Bitterfeld: Während ich noch vor 12 Uhr eine Flasche Cola auspacke, um mich mental auf Bitterfeld einzustimmen, kontert das Rentnerpärchen gegenüber mit einer Plastikflasche Bier. 0:1 gegen mich.

Die Ankunft in Bitterfeld ist da schon vielversprechender. Die Protagonisten: ein älterer Europäer, ein junger Europäer und ein junger Afrikaner.

Auf dem Markt sitzen am Vormittag ein paar Schüler, einige Geflüchtete und vereinzelt junge Mütter. Letztere scheinen sich einig zu sein: Politik bringe doch eh nix und auch die AfD werde nichts reißen, wenn man sich deren Parteiprogramm anschaue. Resignierende Worte aus der Stadt, in der die AfD am besten abgeschnitten hat. Außerdem wünscht man sich hier mehr Arbeitsplätze, eine bessere Infrastruktur und mehr Geld für Bildung: Der Bildungsstand der Auszubildenden sei unzureichend, weswegen Lehrstellen unbesetzt blieben. "Die hängen dann auf der Straße rum, sehen Sie ja da", sagt eine junge Bitterfelderin und zeigt auf eine Gruppe Jugendlicher. Filmen lassen möchte sich keiner – stattdessen wird raunend auf ein Video von Spiegel Online verwiesen.

Nach drei Stunden fangen Männer vereinzelt an, mich mitleidig zu fragen, ob sie mir helfen können. Ein junger Kosovare bietet mir an, mich zu einem belebteren Ort zu bringen – nach seiner Arbeit. Sein Tipp: Am Goitzschesee sind mehr Menschen. Nix leichter als das! Am Ufer stelle ich ernüchternd fest: Wahrscheinlich gibt es ein unterirdisches Atlantis, wo alle redewilligen Menschen wohnen und ich hab meine Schwimmflügel vergessen. Zum Abschluss des Tages schaukle ich noch zehn Minuten, bevor ich genervt aufgebe und zum Zug zurückkehre. Oh, wie schön ist Bitterfeld. Kein Buch. Jemals.


Arendsee: "Hätten wir hier schönere Spielplätze, wären die Kinder nicht so fett."

  • Zeit: vier Stunden im strahlenden Sonnenschein mit Wind
  • Befragte: vom Auszubildenden bis zur Rentnerin wahrscheinlich alle, die sich an dem Tag raus trauten
  • geantwortet hat: eine Person pro Stunde
  • Fazit: Arendsee ist ein hübsches Fleckchen Erde

Knapp zwei Stunden brauche ich über Land durch die Altmark nach Arendsee. Außer Traktoren und Rapsfeldern gibt’s hier nicht viel. Angekommen in Arendsee bin ich mir sicher, an diesem Stück Erde ganz sicher ein paar Hobbits zu begegnen.

Kultureller Treffpunkt und damit eigentliches Stadtzentrum ist ein Schreibwaren- und Tabakladen in Nähe des Rathauses. Anhand der Größe der Pakete, die hier zum Verschicken hingetragen werden, scheinen die Arendseeer alles wegzuschicken, was nicht festgeschraubt ist. In direkter Nähe zu diesem Stadtkern haben sich zwei Dönerläden angesiedelt. Da es aber in der Altmark keine Fladenbrotbäckerei gibt, werden diese direkt aus Berlin-Neukölln geliefert, so der Lieferwagenfahrer. Er bestückt nach eigenen Angaben alle umliegenden Dönerläden mit Fladenbrot, Brot für Dürüm und türkische Pizza, direkt aus Berlin, alle zwei Tage. Gegenüber plärrt plötzlich 90er-Techno-Musik aus einem Handyghettoblaster. Eine ältere Dame kramt verlegen in ihrer Handtasche und meldet sich in guter deutscher Rentnermanier am Techno-Telefon. Das Highlight des Tages.

Die Arendseeer und ihre Nachbarn sind sich schnell einig: Eine schönere Strandpromenade muss her. Dann kämen auch mal mehr Touristen. Die wiederum brauchen eine bessere Verkehrsanbindung, immerhin fährt seit über zehn Jahren nicht einmal mehr ein Zug nach Arendsee, nur noch ein Bus. Dass jeder dritte Deutsche übergewichtig ist, ist auch hier erkannt: Gäbe es schönere Spielplätze, würden sich die Kinder mehr bewegen und wären nicht mehr so fett. (Vielleicht täte es aber auch eine tägliche Schwimmrunde durch den Arendsee.)


Fünf Orte ... ein Fazit?

Persönliche Wünsche an den Ministerpräsidenten? Waren dann doch nicht so persönlich, niemand wollte zum Beispiel eine Geburtstagskarte oder ein Autogramm von ihm. Von "Ich wünsche mir lieber einen anderen Ministerpräsidenten" über "mehr Arbeitsplätze" hin zu besseren Bildungschancen begegnete mit ein buntes Potpourri an Antworten – allerdings sind die Sachsen-Anhalter sehr kamerascheu. Allen voran sicher die AfD-Wähler, denn statistisch gesehen hätte jeder Vierte einer von ihnen sein müssen. Stattdessen haben sich nur zwei geoutet, einer von ihnen nach eigener Aussage Mitglied im Jugendbeirat der Stadt Zeitz.

Es ist schade, dass die häufigste Antwort war, dass man sich mit Politik nicht beschäftige und das nichts bringe. Bei nur zwei Minuten Nachdenken wird vielen aber klar: Alles, was sich in Städten und Orten ändert, ist von der Politik bestimmt. Sei es der Lehrplan einer zehnten Klasse, die nie reparierten Schlaglöcher in der Hauptstraße oder die kaputte Rutsche auf dem Spielplatz.

Für MDR SACHSEN-ANHALT unterwegs Ina Beyer

Ina Beyer

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