Abwasserwirtschaft Gewässerschutz gefährdet: Wichtige Chemikalien fehlen

23. September 2022, 12:22 Uhr

Die Energiekrise führt auch zu einer Verminderung der Salzsäureproduktion. Damit gehen Klärwerken zunehmend Stoffe aus, die dafür sorgen, dass Phosphate ausgefiltert werden und der Algenwachstum gestoppt wird.

Algenwachstum dadurch unkontrollierter?

Aufgrund der immer knapper werdenden Fällmittel haben viele Klärwerke aktuell Schwierigkeiten, die Einleitegrenzwerte für Phosphor einzuhalten. Die Fällmittel verhindern, dass mit dem Abwasser zu viele Nährstoffe in Flüsse und Kanäle gelangen und es so zu einem unkontrollierten Algenwachstum kommt. Wieso kommt es zur Verknappung? Welche Lösungen werden diskutiert? Wie ist die Lage in Mitteldeutschland?

Jeder zweite Kläranlagenbetreiber erwartet Ausfälle

Die deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e.V (DWA) hat in einer repräsentativen Umfrage festgestellt, dass bereits heute ein Viertel der Kläranlagen in ganz Deutschland Lieferausfälle bei Fällmitteln meldet. Bis Oktober würde jeder zweite Kläranlagenbetreiber den Ausfall von Lieferungen erwarten, beziehungsweise sei ihnen das von den Lieferanten angekündigt worden. Auf Nachfrage bei der DWA wurde bestätigt, dass sich die Zahlen auch auf Mitteldeutschland übertragen lassen.

Wieso sind Fällmittel so wichtig?

Bei der chemischen Reinigung des Wassers in den Klärwerken lösen sich Phosphate. Würden diese Phosphate nach der Reinigung wieder zurück in den Wasserkreislauf geraten, könnten sie in Seen und Flüssen als Nährstoffe für Pflanzen agieren und deren Wachstum anregen. Die Folge: Eutrophierung. Eutrophierung hat zahlreiche ökologische und ökonomische Auswirkungen, zum Beispiel könnten großflächig Algenblüten auftreten, die zum Teil Giftstoffe produzieren und so die Wasserqualität verschlechtern. Deswegen werden Fällmittel bei der chemischen Reinigung mit in die Becken gegeben. Diese binden die gelösten Phosphate und sorgen dafür, dass sich diese mit dem Klärschlamm vermischen, der nicht wieder ins Gewässer eingeleitet wird.

70% der benötigten Menge an Salzsäure fehlt

Auch der Abwasserzweckverband Untere Zschopau wurde schon von seinem Lieferanten informiert. Matthias Funke, Meister in Ausbildung, sagt: "Die Lieferzeiten sind jetzt schon hoch und nach Information durch unseren Lieferanten wird dies auch noch prekärer."

Vor Kurzem erhielt der Abwasserzweckverband ein Schreiben, in welchem der Lieferant Auskunft darüber gab, dass aktuell mehr als 70% der benötigten Salzsäuremenge für die Produktion der Fällmittel fehlt. Auf dem Spotmarkt würde momentan das bis zu 20-Fache für Salzsäure gezahlt. Diese Knappheit und diese Preisexplosion seien, bei einem stromintensiven Rohstoff, zum größten Teil der Energiepreispolitik geschuldet.

Reduzierte Salzsäureproduktion durch Energiekrise

In der Chemieindustrie stoppen aktuell viele Mittelständler ihre Produktion, weil ihre Energieverträge auslaufen. Die Folgen machen sich vor allem beim Mangel an Adblue, Ammoniak und der für die Fällmittel-Produktion wichtigen Salzsäure bemerkbar. Die aktuelle Kaufzurückhaltung bei Konsumenten sorgt ebenfalls für einen verminderten Salzsäurebestand, da diese oft ein Nebenprodukt aus anderen chemischen Produktionsprozessen ist.

Etwa bei der Erstellung von Kunststoffen oder Lacken/Farben wird Salzsäure gewonnen. Werden diese Produkte weniger nachgefragt, sinkt automatisch der Bestand an Salzsäure. Josef Ortner, Geschäftsführer der Firma H2Ortner aus Passau, beliefert circa 400 kommunale und industrielle Kläranlagen mit Fällmitteln und anderen Hilfsstoffen, welche er aus unterschiedlichen Quellen bezieht. Aktuell kann das Unternehmen noch all seine Kunden beliefern: "Dank unterschiedlicher Hersteller und unserer Zwischenlager, allerdings mit deutlichem Mehraufwand und längeren Lieferzeiten. Unsere Einkaufspreise bei den Herstellern haben sich drastisch erhöht. Die Transportkosten sind als solches gestiegen und der Frachtraum ist knapp. Da einige Hersteller nicht oder nur sehr eingeschränkt produzieren, müssen wir in einigen Fällen die Produkte über deutlich größere Strecken transportieren."

Das Passauer Unternehmen bekommt in letzter Zeit auch vermehrt Anfragen von Kläranlagen, die ihr Fällmittel sonst direkt vom Hersteller beziehen und sich nun aufgrund von Lieferausfällen nach Alternativen umsehen müssen.

Höhere Grenzwerte belasten Umwelt und erhöhen Abwassergebühr 

Wegen der Ausnahmesituation können die Klärwerke die Einhaltung der Überwachungswerte für Phosphor nicht garantieren. Der Anteil von Phosphor im Wasser, welcher von den Klärwerken nach der chemischen Reinigung ins Wasser eingeleitet wird, ist eine wichtige Kenngröße und wird durch entsprechende Grenzwerte reguliert.

Der Abwasserzweckverband Untere Zschopau muss bei seiner Kläranlage in Waldheim einen Grenzwert von 1,6mg/l einhalten, während der Wert für die größte Kläranlage der Wasserwerke Zwickau 1 mg/l Pges (Gesamtphosphor) beträgt. Für Saskia Dossien von den Stadtwerken Zwickau ist diese Grenze aber keine Richtlinie. "Für die Einleitung unter anderem von Phosphor-Verbindungen bezahlen die Abwasserentsorger eine Abwasserabgabe an den Staat. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass möglichst wenig eingeleitet wird, unabhängig von den Grenzwertvorgaben." Die vom Kläranlagenbetreiber zu entrichtenden Abwasserabgaben müssen über die Abwassergebühren vom Bürger getragen werden. Das bedeutet: Je höher die Werte sind, desto höher ist die Abwassergebühr.

Bundesländer senken die Grenzwerte

Die norddeutschen Bundesländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sowie Nordrhein-Westfalen haben bereits entsprechende Erlasse an die zuständigen Wasserbehörden geschickt. Auf Veranlassung des Umweltministeriums hat das Thüringer Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz als obere Wasserbehörde in der letzten Woche gegenüber den Landkreisen Regelungen getroffen, die inhaltlich etwa mit denen in Schleswig-Holstein bzw. Niedersachsen vergleichbar sind.

Das Umweltministerium Sachsen-Anhalt erklärte auf Anfrage: "Es sind im Ministerium erste Meldungen eingegangen, in denen Kläranlagenbetreiber berichten, dass sie nur noch über einen sehr begrenzten Vorrat an Fällmitteln verfügen. Aus diesem Grund bereitet das Ministerium einen Erlass vor, in dessen Rahmen erhöhte Phosphor-Eintragungen im unbedingt erforderlichen Umfang und für die unbedingt erforderliche Zeit geduldet werden." Die DWA begrüßt in einer Pressemitteilung die pragmatische Herangehensweise der Landesumweltministerien zur Duldung unter strengen Auflagen ausdrücklich. Gleichzeitig sei aber auch der Bund gefordert, bundeseinheitliche Regelungen für die Krise zu initiieren, damit erhöhte Abwassergebühren verhindert werden.

Zusammenarbeit zwischen Klärwerken eine Option?

Ein reduzierter Fällmittel-Einsatz in Kombination mit einer neuen Regelung zur Grenzwerteinhaltung ohne Sicherheitspuffer wäre eine Option, die der DWA vorschlägt, da die Ablaufwerte der Kläranlagen in Deutschland bei etwa 50% der Mindestanforderung liegen. Der DWA schlägt auch eine Zusammenarbeit unter den einzelnen Kläranlagen vor. Für Kristian Dietrich von den Gemeinschaftsklärwerken Bitterfeld-Wolfen ist das eine mögliche Alternative: "Ich denke tatsächlich, dass es – in einer idealen Welt – bei extremer Verknappung von Rohstoffen natürlich sinnhaft ist, solche Entscheidungen auf Basis von Risikobetrachtungen und mit volkswirtschaftlichem/gesamtheitlichem Kalkül zu treffen."

Ersatzverfahren nicht für jedes Klärwerk anwendbar

Der verstärkte Einsatz von Bio-P-Verfahren könnte eine Option für die Klärwerke sein, da dies den Einsatz von Fällmitteln überflüssig werden lässt. Bei dem Verfahren übernehmen spezielle Mikroorganismen den Phosphatabbau. Dafür müssten aber die Klärwerke umgebaut und anaerobe Zonen gebildet werden. Am Standort Bitterfeld-Wolfen sei dies nicht möglich und man käme dort an den Fällmitteln nicht vorbei. Auch könnte das Verfahren negative Auswirkungen auf die Entwässerbarkeit der Klärschlämme haben.

Abschließend fordert der DWA vom Bund, sich mehr für die Salzsäureproduktion einzusetzen, um unter anderem Eisen aus Eisenschrott lösen zu können. Auch der verstärkte Bezug von alternativen Fällmitteln über den Weltmarkt solle vom Bund forciert, beziehungsweise finanziell unterstützt werden.

Phosphor ist Nährstoff, nicht toxisch

Die Krise wirkt sich aktuell nicht stark aus, da in der anstehenden kalten Jahreszeit kaum Algenwachstum stattfindet. Das Risiko einer Eutrophierung durch gesenkte Grenzwerte sei daher laut Experten gering. Auf lange Sicht wären höhere Phosphoreinleitungen jedoch insbesondere bei empfindlichen Gewässern sehr problematisch.

Über Flüsse könnten die Nährstoffe auch in die Meere gelangen und Nord-und Ostsee belasten. Josef Ortner hofft bis dahin auf eine Entspannung der Situation: "Wie lange das noch geht, ist nicht gesichert zu sagen. Nach den uns vorliegenden Informationen ist frühestens Ende November, Anfang Dezember eine Verbesserung der Lage zu erwarten."
 

MDR Wirtschaftsredaktion

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 23. September 2022 | 19:30 Uhr

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