Sinkende Ausbildungszahlen Wie das Handwerk am Leben bleiben kann

12. September 2022, 08:23 Uhr

"Ich möchte Blaudrucker werden" – diesen Satz dürfte man eher selten hören, denn dieses traditionelle Handwerk, bei dem blauweiße Muster auf Naturstoffen erschaffen werden, ist in Deutschland fast ausgestorben. Nur noch wenige Betriebe gibt es im Land. Wie kann ein Handwerksberuf überleben? Welche Handwerksberufe haben sich weiterentwickelt? Warum fusionieren manche Berufe?

Das Mindset der jungen Bewerber: Persönliche Interessen über Gehalt  

Weit über 500.000 offene Stellen im Handwerk können in Deutschland nicht besetzt werden. Ein Rekordwert, heißt es im aktuellen Report des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA). Die Fachkräftelücke verdoppelte sich im Lauf des vergangenen Jahres sogar. Wonach wählen angehende Berufsanfänger heute ihren Beruf aus? "Das, was sie ganz persönlich interessiert, ist ihnen auf jeden Fall wichtiger als nur das Gehalt", beschreibt Helen Hickmann vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) die Motivation junger Fachkräfte. "Viele Umfragen zeigen auch, dass Jugendliche Wert auf gute Arbeitsmarkperspektiven legen – zum Beispiel, wie gut die Chancen für eine spätere Anstellung nach der Ausbildung stehen. Sie suchen eine gewisse Sicherheit", erklärt sie.

Stirbt das Bäckerhandwerk aus?

Besonders schwer hat es aktuell das Bäckerhandwerk. Gab es 2014 noch 12.611 Bäckerbetriebe, existierten 2021 nur noch 9.965. Der Konkurrenzdruck durch die günstigen Discounter und große Ketten ist für "traditionelle" Bäckereien oft nicht auszuhalten. Die Corona-Pandemie hat die angespannte Situation noch verschärft. Dies zeigt sich auch bei den Ausbildungszahlen. Laut Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks e.V. begannen im Jahr 2011 noch 10.445 Berufsanfänger eine Lehre zum Bäcker, 2021 waren es nur noch 4.744.

Branche will sich verändern   

Die Branche hat die Zeichen der Zeit erkannt. Im Juni 2022 fand der erste Ausbildungsgipfel des Bäckerhandwerks unter der Schirmherrschaft von Bundesministerin Bettina Stark statt. In diversen Workshops wurden an zwei Tagen Lösungsansätze entwickelt, um junge Menschen wieder mehr fürs Handwerk zu begeistern.

Themen waren unter anderem die Bedürfnisse der jungen Generation und das Images des Bäckerhandwerks. Wolfgang Schäfer, Vizepräsident vom Zentralverband des deutschen Backhandwerk e.V. sagt: "In den zwei Tagen haben wir innovative Ansätze kennengelernt und von guten Beispielen aus der Praxis erfahren. Diese vielseitigen Impulse müssen wir jetzt mit Leben füllen und als Branche in die Breite tragen, um wieder mehr junge Menschen dafür zu begeistern, diese wunderbaren Berufe zu erlernen."

Digitalisierung eine Gefahr fürs Handwerk?

Nach einem Bericht der Agentur für Arbeit sind 100% der Tätigkeiten im Bäckerhandwerk durch Maschinen/Computer substituierbar. Experten sind sich aber einig, dass eine solche Quote nicht automatisch zum Aussterben eines Handwerks führt. Am Beispiel des Bäckerhandwerks zeigt sich, wie wichtig der menschliche Faktor ist.

In einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die sich mit der Brot- und Backwarenindustrie befasst, wurde festgestellt, dass der Endkunde vermehrt Wert lege auf Produkte, die an sein persönliches Lebensgefühl angepasst und individualisiert sind. Dies wiederum führe zu einer Ablösung von Massenmärkten durch sogenannte "Customized Markets". Viele Konsumenten schätzen heutzutage das handgefertigte Brot und die Beratung vom Bäcker nebenan mehr als Massenware vom Discounter.

Chance durch Digitalisierung

Die Digitalisierung kann auch eine Chance sein. Am Beispiel des Bäckerhandwerks können zum einen Arbeitsprozesse erleichtert werden, wodurch Bäcker mehr Zeit für Kundenbindung und Beratung aufbringen können. Außerdem bietet der Onlineverkauf einen neuen Absatzmarkt. Auf den Web-Seiten vieler sächsischer Bäckereien wird darauf hingewiesen, dass auch in die USA geliefert werde. Vor allem der sächsische Stollen ist in Amerika sehr beliebt. Digital kann auch viel für das Image des Berufs getan werden – zum Beispiel von Backfluencern der Nachwuchskampagne "Back Dir deine Zukunft", die regelmäßig in den sozialen Medien über den beruflichen Alltag des Bäckerhandwerks berichten.

Berufe sterben nicht aus! Sie fusionieren  

Dass Berufe nicht direkt aussterben, sobald sie automatisierbar sind, sondern sich an die Marktgegebenheiten anpassen und verändern, zeigt das Berufsbild des/der Mediengestalters/in digital und Print. In diesem Beruf sind Ausbildungsberufe wie Schriftsetzer und Flexografen aufgegangen.

Ein weiteres Beispiel ist der Beruf Kraftfahrzeugmechatroniker/in. Hier kam es zu einer Fusion der Berufe Kfz-Mechaniker/in, Kfz-Elektriker/in und Kfz-Schlosser/in. Der Mechatroniker ist ein Mechaniker, mit Kenntnissen der Elektrotechnik. Dies ist auch notwendig, um dem E-Auto Trend und den Plänen zum autonomen Fahren gerecht zu werden. Dieser hat spätestens im Mai 2022 nach der vom Bundesrat verabschiedete Verordnung zum autonomen Fahren (AFGBV) an Wichtigkeit gewonnen. In der Verordnung wird geregelt, in welchen Betriebsbereichen Level-4-Kraftfahrzeuge zugelassen werden dürfen und welche technischen Anforderungen an den Bau, die Beschaffenheit und die Ausrüstung zu stellen sind.

Orgelbau-Ausbildung wird zum UNESCO-Weltkulturerbe

Laut Zentralverband des Deutschen Handwerks gibt es aber auch "kleinere" handwerkliche Berufe, bei denen es weniger eine arbeitsmarkt-ökonomische, sondern eher eine kulturell-gesellschaftliche Frage ist, ob diese Berufe tatsächlich aussterben. Hier gehe es um Erfahrungen und Kulturtechniken, die sich nicht oder nur unzureichend in Büchern verschriftlichen und erhalten lassen.

Die Folge daraus ist, dass das Wissen daher nur von Generation zu Generation, vom Meister zum Gesellen adäquat weitergegeben werden kann. Ein Bespiel dafür ist der Beruf Orgel- und Harmoniumbauer/in –  ein Beruf, der jährlich etwa 40 neue Azubis begrüßen kann. Gleichzeitig ist der deutsche Orgelbau weltweit führend und sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden.

Name bleibt – Inhalt verändert sich: der Seiler

Der Beruf des Seilers ist ein traditionelles Handwerk. Im Gegensatz zur ähnlichen Tätigkeit der Reepschläger, welche im Mittelalter große Taue für die Schifffahrt in Hafenstädten herstellten, nähte der Seiler kleinere Stricke. Die Tätigkeit des Seilers war damals nicht sehr hoch angesehen. Heutzutage hat sich das Ansehen des Berufs geändert. Die Seile und Netze (aus Naturfasern, Kunstfasern und Metall) sind in vielen Bereichen des wirtschaftlichen, industriellen und auch alltäglichen Lebens unverzichtbar.

Die Tätigkeit an sich hat sich ebenfalls gewandelt. Der Seiler ist heute ein High-Tech-Beruf, mit wenigen Betrieben, die sich aber hoch spezialisiert haben – u.a. auf Seile für Liftanlagen oder für Hängebrücken. Dennoch beginnen immer weniger junge Menschen eine Ausbildung. Begannen 2011 noch 95 Menschen eine Ausbildung zum Seiler, waren es Ende 2020 nur 82. Einen negativen Einfluss auf die Branche hat auch der hohe Importanteil von Seilware.

Altes Handwerk nicht vergessen – neue Jobs bewerben!

Nicht nur "sterben alte Berufe aus", neue Handwerksberufe werden oft nicht wahrgenommen. Vor allem bei nachhaltigen und grünen Tätigkeiten macht sich das bemerkbar. Die Motivation junger Arbeitskräfte sei hoch, in diesem Bereich aktiv zu werden, so Helen Hickmann vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Doch viele Berufsbilder seien einfach noch zu unbekannt. "Der Kampf gegen den Klimawandel und für den Wandel zu erneuerbaren Energien und Lebensweisen ist vielen jungen Leuten heute sehr wichtig. Sie wünschen sich, etwas Sinnvolles zu machen. Doch bei grünen Berufen denkt kaum einer gleich an den Gebäudetechniker, Elektriker oder Dachdecker", sagt sie.

Das gleiche gelte für die Fachkraft für Abwassertechnik. Dieser Bereich der Ver- und Entsorgung spielt eine wichtige Rolle für die Energiewende, aber das sei noch nicht in den Köpfen verankert. Eine Lösung könnten zum Beispiel Berufswahltests sein. Dabei können Achtklässler in rund fünf Stunden ihre Stärken und Schwächen testen und verschiedenste Berufe kennenlernen. "Da geht man mit der ganzen Klasse hin und probiert sich zum Beispiel im Coding aus oder macht etwas Handwerkliches. Fragebögen helfen herauszufinden, welche Berufe in Frage kommen könnten", so Hickmann.

MDR Wirtschaftsredaktion

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Umschau | 13. September 2022 | 20:15 Uhr

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