Notfall-Szenarien Warten auf die große Gaskrise: Vorbereitungen auf den Notstand laufen

13. Juli 2022, 08:00 Uhr

Seit Bundeswirtschaftsminister Habeck begonnen hat, vor einer vielleicht längeren "politischen Wartung" der Erdgas-Pipeline Nord Stream 1 zu warnen, wächst in ganz Deutschland die Sorge, aus Russland könnte bald gar kein Gas mehr oder weiterhin nur spärlich fließen. Notfall-Szenarien und Pläne werden aufgestellt. Dabei ist vieles völlig offen, und Gas-Rationierungen dürfte es frühestens und im schlimmsten Fall wohl im Herbst oder Winter geben – wobei private Haushalte besonders geschützt sind.

Am Montag haben saisonal übliche Wartungsarbeiten an der vom russischen Staatskonzern Gazprom betriebenen Erdgas-Leitung Nord-Stream begonnen, die über 1.200 Kilometer nach Lubmin an der Ostsee führt.

Die Arbeiten sollen bis 21. Juli dauern. Doch seit Wochen äußert auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Befürchtung, wegen der deutschen Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen den Angreifer könne Russland dies als Vorwand nutzen und seine Gaslieferungen nach Deutschland einstellen, so wie beispielsweise nach Bulgarien.

Noch am Montag sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, im ZDF-Morgenmagazin auf die Frage, wie es weitergeht: "Ehrlich gesagt, es weiß keiner." Es gebe Aussagen aus dem Kreml, dass mit der nun trotz der Sanktionen aus Kanada gelieferten, reparierten Siemens-Turbine wieder mehr Gas fließe. Doch es gebe auch "sehr martialische Ansagen", die Müller aber nicht genauer benannte. "Man muss die Lage genau beobachten, gleichzeitig aber alles tun, jetzt Gas einzusparen", sagte er: "Wir können ja etwas tun."

Die Wirtschaft fürchtet, dass Russland das "Gas als strategische Waffe benutzt", sagte etwa Chefvolkswirt Thomas Gitzel von der VP Bank: "Die Augen der Welt werden am 21. Juli auf den Pipeline-Knotenpunkt in Lubmin gerichtet sein." Bliebe das Gas ganz aus, würde zwar nicht sofort Notstand herrschen, doch weitere Speicherungen für den Winter würden schwierig und "spätestens 2023" müsse das Gas wohl rationiert werden, was zu "neuen Lockdowns der Wirtschaft" und einer "tiefen Rezession" führen könne.

Wirtschaftsminister Habeck sieht aktuell die Versorgung allerdings noch gewährleistet. Eine Sprecherin sagte zwar, die Lage sei angespannt und werde genau beobachtet. Eine Ausrufung der Notfalllage stehe aber so nicht an.

Szenarien und Spekulationen

Das Ministerium und die Bundesnetzagentur haben Prognose-Szenarien aufgestellt, die sehr komplex sind und auf vielen Annahmen beruhen. Wie genau eine Rationierung aussehen könnte, ist daraus nicht ersichtlich. Und diejenigen, die dafür verantwortlich zeichnen, warnen vor Spekulationen.

Tom Wetzling, Sprecher des Thüringer Ministerium für Umwelt, Energie und Naturschutz, hielt auf Anfrage von MDR AKTUELL drei Szenarien für möglich:

  • nach der Wartung bleibt der Gasfluss durch Nord Stream 1 bei null,
  • nach der Wartung setzt er wieder ein, weiter vermindert oder vollständig,
  • es kommt zu einer unsteten Gaslieferung, je nach Kalkül in Moskau,

um etwa den Gaspreis hoch zu halten, wie Wetzling meinte, oder eben auch um Angst in Deutschland und Spannungen zu erzeugen und so die deutsche Motivation für die weitere Unterstützung der Ukraine zu beeinflussen.

Ob und wann es zum Notstand, also einer Gasmangel-Lage hierzulande kommt, hängt laut Wetzling aber nicht mehr nur von den Lieferungen aus Russland ab. Immerhin sei ja die Abhängigkeit von russischem Gas seit Anfang dieses Jahres schon von 55 auf fast 30 Prozent gesunken.

Wetzling und auch sein sächsischer Kollege Robert Schimke weisen darauf hin, dass bei Prognosen auch die Witterung zu bedenken sei, der Füllstand der Gasspeicher, wie schnell der Aufbau neuer Flüssiggas-Terminals (LNG) vorankomme, was Gas-Einsparungen und das geplante Gas-Auktionsmodell der deutschen Industrie bringen, welche Gasflüsse es von hier in andere EU-Staaten wie Tschechien oder aus anderen wie etwa Belgien, Frankreich und aus den Niederlanden es nach Deutschland noch gebe.

Die Bundesregierung habe bereits eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, unter anderem den LNG-Einkauf oder die gesetzlichen Änderungen vergangene Woche, sagte Robert Schimke, Sprecher des Ministeriums für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Agrar in Sachsen. Gemeint sind das neue Energiesicherungsgesetz und vor allem Steinkohle- als Ersatzkraftwerke.

Timm Kehler, Vorstand des Lobby-Verbands Zukunft Gas e.V. in Berlin erklärte auf Anfrage von MDR AKTUELL: "Sollten die geplanten Gaslieferungen durch die Nord Stream-Pipeline nach der Wartung vollständig ausbleiben, würde das vor allem die Einspeicherung von Gas für den Winter gefährden", woraus folgen könne, "dass mit Beginn der Heizperiode eine Rationierung des Gasverbrauchs durch die Ausrufung der Notfallstufe erforderlich wird".

Notfallpläne und Krisenteams

Robert Schimke vom sächsischen Ministerium möchte sich zu solchen Szenarien für Sachsen nicht äußern: Bundeswirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur seien federführend und Prognosen über regionale Auswirkungen noch "Spekulation, an denen wir uns nicht beteiligen".

Laut Schimke gibt es aber ein ständiges Krisenteam auf Bundesebene, das sich eng mit den Ländern abstimme. In Sachsen werde es auf Staatsekretärs-Ebene gebildet aus dem eigenen Ministerium und denen für Wirtschaft, dem Sozial- und dem Innenministerium, der Staatskanzlei und bei Bedarf weiteren Ministerien. Das Team tage aktuell zweimal die Woche und stehe "im engen Austausch mit dem Bund und mit allen relevanten Beteiligten in Sachsen".

Noch aber laufen Gasmarkt und Verteilung marktwirtschaftlich, woran auch festgehalten wird. Rationierungen könnte es ab Stufe 3 im Notfallplan Gas geben, in der "Notfallstufe" als letzter. Die Bundesnetzagentur könnte dann "Bundeslastverteiler" werden, wenn Gasmärkte nicht mehr funktionieren, um zusammen mit den Netzbetreibern das Gas zu rationieren. Doch bestimmte Verbraucher sind dabei gesetzlich besonders geschützt und bis zuletzt zu versorgen: Private Haushalte und soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser und Heime, auch Gaskraftwerke, die Haushalte mit Wärme beliefern.

Habeck sagte am Montag in den ARD-"Tagestehmen", Haushalte und systemrelevante Bereichen seien geschützt: "Die würden nicht betroffen sein oder als ganz als letzte, wenn es wirklich knüppeldicke kommt." Am Tag darauf sagte er aber auch, die Industrie solle nicht automatisch benachteiligt werden, vor allem dann nicht, wenn ein Gas-Mangel länger anhalte.

Erste Debatten um Rationierungen

Während also der konkrete Umgang mit einem noch nicht eingetretenen Notfall noch nicht feststeht, machen sich Unternehmen besorgte Gedanken – zu Recht, denn sie wären nach aktuellem Stand als erste von Rationierungen betroffen. Gleiches gilt auch für Kommunen und deren Stadtwerke.

Anfang der Woche schlug die Molkerei-Branche in Süddeutschland wie andere zuvor schon Alarm: Werde Molkereien das Gas abgedreht, drohe ein massiver Produktionsstopp bei Milch und Käse, hieß es.

Und in der "Süddeutschen Zeitung" stellte der Verband der chemischen Industrie gar den Vorrang privater Haushalte bei der Gas-Zuteilung infrage. Verbandspräsident Christian Kullmann sagte, Arbeitsplätze und Einkommen seien wichtiger als die vollständige private Gasversorgung. Es nütze nichts, wenn man zwar weiter Gas bekäme, es aber nicht mehr bezahlen könne.

Klaus Müller von der Bundesnetzagentur hält sich mit Aussagen zu Rationierungen noch zurück. Der Deutschen Welle (DW) sagte er, komme es dazu, "würden wir bei den großen Gasbeziehern differenziert entscheiden", betriebswirtschaftliche Schäden berücksichtigen, Auswirkungen auf die Lieferketten, volkswirtschaftliche und soziale Dimensionen.

Auch Patrick Graichen, Staatssekretär im Habeck-Ministerium, wollte noch nicht sagen, wie der Notfallplan dann aussieht und wer als systremrelevant gelten würde. Er sagte der DW: "Wir sind gerade dabei, das vorzubreiten und die entsprechenden Daten zusammenzustellen, wollen aber daran festhalten, dass der Preis entscheidet. Dass wir staatliche Zuteilungen machen ist der absolute Notfall und nicht unser Ziel."

Vielmehr, sagte Graichen dazu weiter, sollten die hohen Gaspreise auch Einsparsignale an die Wirtschaft und die privaten Haushalte senden. Das sei "auch eine Chance, die Alternativen voranzutreiben". Die neuen LNG-Terminals könnten demnach erst im Januar und Februar zum Einsatz kommen.

Angst vor der Komplett-Abschaltung

So wird weiterhin befürchtet, Russland könne die große Gaskrise vorher auslösen. Timm Kehler von Zukunft Gas: "Seit Putins Krieg sind die russischen Gaslieferungen nicht zuverlässig und es muss mit allem gerechnet werden".

Bundesnetzagentur-Chef Müller warf Moskau auch vor, aus politischen Gründen alternative Lieferwege, etwa die Jamal-Pipeline nicht zu nutzen. Russland könne mehr Gas auch durch die Ukraine liefern, um vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dazu fehle Präsident Wladimir Putin "aber offenbar der politische Wille". Ab der nächsten Woche jedoch werde er dann Farbe bekennen müssen.

Der russische Staatskonzern Gazprom entgegnete, bereits mehr Gas durch die Ukraine zu liefern, etwa 41,3 Millionen Kubikmeter am Dienstag, nach 39,4 Millionen am Montag. Das Vorhaben, über einen weiteren Eingangspunkt russisches Gas einzuspeisen, sei von der Ukraine abgelehnt worden.

Spekulationen über Putins weitere Absichten

Wie Putin entscheidet, ist die wichtigste Unbekannte. Allerdings sagte der russische Ökonom Oleg Buklemishev im MDR-Interview bereits Ende März, dass Russland seine Gas-Lieferungen nicht ganz einfach stoppen könne, "im Gegensatz zu Saudi-Arabien, wo man die Förderung stoppen kann. Das liegt an den physikalischen Gegebenheiten unserer Quellen" in Sibirien.

Auch fehle es noch an der Infrastruktur für Lieferungen etwa nach China, sagte Buklemishev. Russland habe sich auf das Europageschäft konzentriert und er "denke auch nicht, dass sich das kurzfristig ändern lässt".

Der Energie- und Sicherheitsexperte Frank Umbach meint dazu – wie viele andere bis zu Habeck und dem Chef der Bundesnetzagentur –, dass man das Totalausfall-Szenario trotzdem ernst nehmen solle. Für wahrscheinlich wird aber auch gehalten, dass Russland die Lieferungen zwar nicht beenden, aber immer wieder an den Liefermengen drehen könnte, je nach Lage und Kalkül, auch um Deutschland und die Ukraine gegeneinander auszuspielen.

mit MDR/Reuters/DW/dpa u.a.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 12. Juli 2022 | 09:00 Uhr

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