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Würde die Entwicklung der Löhne an die Inflation gekoppelt, ließe es sich für viele Menschen entspannter einkaufen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Fabian Sommer

PreiskriseVorbild Belgien: Sollte man Löhne an die Inflation anpassen?

07. Juni 2023, 05:00 Uhr

Man stelle sich vor, die Lebensmittel- und Energiepreise steigen – und es lässt einen kalt. Und zwar, weil die Löhne im gleichen Maß steigen. Durch Tarifsteigerungen und Inflationsausgleichsprämien bekommen viele Deutsche derzeit zwar auch mehr Geld, die gestiegenen Preise fängt das aber in den wenigsten Fällen auf. In Luxemburg oder Belgien ist das anders: Hier steigen Löhne und Gehälter analog zur Inflation. "Indexlöhne" nennt man das.

Kurt Pothen ist Belgier und wohnt mit seiner deutschen Ehefrau in Köln. Er selbst arbeitet aber weiterhin in seiner belgischen Heimat, pendelt jeden Tag in die kleine Grenzstadt Eupen. Dort arbeitet er als Journalist bei einer deutschsprachigen Tageszeitung in Belgien. Im Januar hat er eine Lohnerhöhung von elf Prozent bekommen.

Diese elf Prozent entsprechen weitestgehend der Teuerungsrate in Belgien vom Vorjahr. "Ich bin sehr froh, dass das erreicht wurde hier in Belgien", sagt Porthen und meint damit, "dass es eine automatische Lohnindexierung gibt". Auch wenn die nicht komplett den Verlust der Kaufkraft auffange, sei das "eine gute Sache".

Auch seine Frau Viola ist vom belgischen Indexlohn begeistert. Sie selbst arbeitet in Deutschland als Lehrerin und würde sich wünschen, dass auch ihr Gehalt automatisch mit der Inflation steigt. "Ich habe einen direkten Vergleich, ich habe in Belgien gearbeitet, ich musste nichts tun, ich musste mich nicht einsetzen, auch nicht auf die Straße gehen, ich habe einfach jährlich automatisch eine Lohnerhöhung bekommen." Das sei auch unabhängig vom Familienstand oder anderen Faktoren geschehen.

Deutsche Pendler profitieren vom belgischen Indexlohn

Im Januar 2023 bekamen in Belgien insgesamt eine Million Arbeitnehmer aus den unterschiedlichsten Branchen eine Erhöhung von etwa elf Prozent auf ihren Bruttolohn. Auch die Zeitungszustellerin Michaela Tjarks gehört dazu. Sie ist Deutsche und mit einem Belgier verheiratet. Sie arbeitet im Grenzgebiet auf der belgischen Seite und profitiert somit ebenfalls von der Inflationsanpassung. "Im Vergleich zu Deutschland verdiene ich sowieso ein bisschen besser als Zustellerin, gerade als Zeitungszustellerin und ich bin eigentlich ganz glücklich, dass ich den Job hier mache." In Deutschland müsse man sich um jede Lohnerhöhung selbst kümmern.

In Belgien werden die Löhne seit 1920 automatisch an die Inflation angepasst. Grundlage des Systems ist ein Index. Um diesen zu bestimmen, wurde ein Warenkorb festgelegt mit rund 600 Produkten und Dienstleistungen. Dazu zählen Lebensmittel, Dienstleistungen wie ein Friseurbesuch, außerdem Wohn- und Energiekosten. Wird festgestellt, dass die Inflation um zwei Prozent gestiegen ist, müssen auch die Gehälter, Renten und Sozialleistungen um zwei Prozent steigen. Im öffentlichen Dienst kann das mehrmals im Jahr erfolgen. In der privaten Wirtschaft gilt zwar dasselbe Prinzip, allerdings können hier die Löhne nur einmal jährlich angepasst werden.

Indexlohn auch in Luxemburg

Auch in Luxemburg ist seit Mai 1975 ein Indexlohn allgemein gültig – und zwar per Gesetz. Hier umfasst der Warenkorb sogar etwa 60.000 Artikel, die ebenfalls in unterschiedliche Kategorien eingeteilt und mit Hilfe eines Punktesystems gewichtet werden. Immer, wenn der Warenkorb im Wert um 2,5 Prozent gestiegen ist, werden alle Löhne, Gehälter und Renten ebenfalls um 2,5 Prozent an die Steigerungen der Verbraucherpreise angepasst.

Der gebürtige Westfale Alexander Fey arbeitet seit 2008 in Luxemburg. Dabei pendelt er täglich aus der Mosel-Region in das Nachbarland. "In Luxemburg haben wir, seitdem ich hier angefangen habe, eigentlich keine Streiks gehabt, wo es um Lohnerhöhungen ging." Es habe Streiks wegen betriebsbedingter Kündigungen gegeben oder wegen der Ausgestaltung anderer Tarif-Details.

Kein Inflationsausgleich in Deutschland

In Deutschland dagegen ist der automatische Ausgleich einer solch hohen Inflation wie im Jahr 2022 undenkbar. Die Reallöhne sanken im Vorjahr im Durchschnitt um vier Prozent. Auch die heftigen Tarifauseinandersetzungen wie jüngst im öffentlichen Dienst oder bei der Deutschen Bahn änderten nichts an der Situation. 

Trotz Tariferhöhung im öffentlichen Dienst werden sich viele Beschäftigte weniger kaufen können als noch vor Jahren. Laut einer Beispielrechnung der Gewerkschaft Verdi gibt es für eine Pflegefachkraft mit derzeit 3.448,44 Euro monatlichem Bruttogehalt ab dem 1. März 2024 zwar 11,6 Prozent mehr Geld. Da der Tarifabschluss aber eine Laufzeit von zwei Jahren hat, bedeutet das auf ein Jahr umgerechnet etwa 5,8 Prozent. Teil des Tarifabschlusses war auch eine Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro. Doch diese stellt für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung keinen Ausgleich dar, da sie auf Dauer von der Inflation geschluckt würde. "Und das ist eben kein Ausgleich", resümiert DIW-Chef Marcel Fratzscher.

Auch Reinhard Bispinck, Tarifexperte der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, bezeichnete die 3.000 Euro nur als kurzfristig "hochattraktiv".

Indexlohn – ein Modell für Deutschland?

DIW-Chef Fratzscher hat große Sympathien für die Lohnindexierung, da sie den Beschäftigten eine Sicherheit gegen den Kaufkraftverlust bieten würde. Das System hält er aber für schwer umsetzbar in Deutschland. Für die Unternehmen und die gesamte Wirtschaft könne es problematisch sein, "wenn beispielsweise jetzt in dieser Krise die höhere Inflation importiert ist, also über höhere Energiekosten zustande kommt und Unternehmen daran nichts ändern können“.

recapWie Streiks die Wirtschaft stärken können

Auch Reint Gropp vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) aus Halle bevorzugt das "deutsche Lohnsystem". "Das gegenwärtige System der Lohnfindung funktioniert in Deutschland recht gut und ist flexibel." Er denke nicht, dass Deutschland von einer Umstellung auf einen Indexlohn profitieren würde, ergänzt Gropp.

Im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) pochte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, sogar auf strengere gesetzliche Regelungen für Arbeitskämpfe, da diese zunehmend unberechenbarer würden.

Das "Lohnindex-Modell" lehnt der BDA ebenfalls ab, wie eine MDR-Anfrage ergab. "Ein Eingriff in die Tarifautonomie in Gestalt einer Indexierung der Entgelte wäre die falsche Reaktion. Damit würde die vom Grundgesetz intendierte Tarifautonomie weitgehend obsolet." Darüber hinaus trieben Indexlöhne die Inflation "nach allen Erfahrungen" an.

Gegner argumentieren mit der Lohn-Preis-Spirale

Ob die Indexlöhne wirklich die Inflation antreiben, hat die Luxemburger Statistikbehörde Statec bereits 2017 untersucht. In einer Studie wurde geprüft, ob der Indexlohn zu einer Lohn-Preis-Spirale führt. Diese bezeichnet den Effekt, wenn Unternehmen steigende Lohnkosten in Form von Preiserhöhungen an ihre Kunden weitergeben. Die Inflation würde also steigen und die Arbeitnehmer wiederum würden dann erneut mehr Lohn fordern.

Unter der LupeDer Mythos der Lohn-Preis-Spirale

Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass nur wenige Preise stark auf die Indexierung reagieren. Vor allem bei Dienstleistungen aus dem Bereich der Pflege und der Gesundheit, die zum Teil staatlich verwaltet werden, konnten entsprechende Ausschläge beobachtet werden. In den ersten sechs Monaten nach einer 2,5-prozentigen Lohnsteigerung würde sich die Indexierung mit einem Preisanstieg von 0,22 Prozent auswirken.

Arbeitsplätze in kleinen Unternehmen könnten verloren gehen

Marcel Fratzscher sieht in Deutschland gegenwärtig keine Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, da die Forderungen der Gewerkschaften in den letzten Krisenjahren meist unter der Inflation gewesen seien. Doch gerade am Beispiel der hohen Energiekosten in den vergangenen Jahren könne man die Schwachstelle der Lohnindexierung erkennen. Große Unternehmen hätten ihre Marktmacht ausnutzen und ihre gestiegenen Energiekosten an ihre Kunden weitergeben können.

Kleinere Unternehmen, wie zum Beispiel eine inhabergeführte Bäckerei, konnten das aufgrund des harten Konkurrenzkampfs eher nicht. Ähnlich würde es sich auch mit automatisch steigenden Personalkosten verhalten. Die Gefahr von Arbeitslosigkeit würde dadurch steigen. IWH-Chef Gropp stimmt dem zu: "Wenn die Lohnsteigerungen aufgrund der Indexierung zu hoch ausfallen, also höher sind als das, was das Unternehmen am Markt bekommen kann, dann wird es am Ende mit Freisetzung reagieren."

Eurowings: Erstes Indexlohn-Unternehmen in Deutschland

Auch in Deutschland gibt es inzwischen ein Unternehmen mit einem Tarifabschluss, das einer Indexlohn-Regelung ähnlich ist. Bei den Flugbegleitern von Eurowings in Köln wird künftig die Inflation berücksichtigt, so Marvin Reschinsky, Verhandlungsführer auf Seiten der Gewerkschaft Verdi: "Der Tarifabschluss bei Eurowings war insofern besonders, da die Vergütung an die Inflation gekoppelt war." Das heiße, die Preise seien letztes Jahr um 7,9 Prozent gestiegen und "genauso ist auch die Vergütung gestiegen, das war ein großer Bestandteil des Tarifabschlusses".

Ein weiterer Bestandteil ist, dass es im Dezember erneut zu einer Erhöhung in Höhe der Inflationsrate für das Jahr 2023 kommen kann. Dieser Abschluss mit Inflationsausgleich könnte Modellcharakter haben.

Die, die viel verdienen, haben logischerweise mehr von prozentualen Steigerungen. Bei bevorstehenden Tarifverhandlungen will sich Marvin Reschinsky vor allem für die unteren Gehaltsgruppen einsetzen und diese Gruppen stärker ansteigen lassen als "besserverdienende" Gruppen. Dieser Schritt sei notwendig, um in Zeiten des Fachkräftemangels bestimmte Berufsgruppen attraktiv zu halten.

Individuelle Lösungen wie diese seien schwer möglich, wenn pauschal alle Arbeitnehmer eine Erhöhung von 2,5 Prozent erhielten, erklärt Reschinsky. Reallohn-Zuwächse seien darüber hinaus auf diese Art schwer zu erreichen, da Unternehmen eine erhebliche Lohnkostensteigerung schon vor den Verhandlungen eingeplant hätten. Deshalb ist auch der Gewerkschafter gegen das Modell der Lohnindexierung.

Problem Tarifbindung

Eine pauschale Erhöhung der Löhne aller Beschäftigten könnte auch die Einkommensschere zwischen Ost und West oder auch die Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen noch weiter auseinandertreiben. Zwar gibt es bei den Tariflöhnen keine wesentlichen Ost-West-Unterschiede mehr, doch nicht alle Arbeitnehmer in Deutschland sind tarifgebunden. Während in Westdeutschland im Jahr 1996 noch 80 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeiteten, waren es 2020 nur noch 53 Prozent – in Ostdeutschland sank der Anteil von 73 auf 43 Prozent.

Die geringe Gewerkschaftsbindung führt dazu, dass die tatsächlich gezahlten Gehälter in den ostdeutschen Bundesländern um 13,7 Prozent niedriger ausfallen als im Westen. Für Frederic Krier von der Luxemburger Gewerkschaft OGBL wäre das aber kein Argument gegen den Index. "Das Lohngefüge an sich wird ja nicht geändert. Es ist eben kein Umverteilungs-Instrument, sondern ein Ausgleichsinstrument! Um eine Umverteilung zu machen, müsste man auf der Steuerseite agieren!"

Widerstand gegen Indexlohn auch in Belgien und Luxemburg 

Aktuell muss der Gewerkschafter aber auch in Luxemburg für den Erhalt des Indexes kämpfen. Die Arbeitgeber fordern eine Änderung, da es in Zeiten hoher Inflation auch mehrmals im Jahr zu Gehaltssteigerungen von 2,5 Prozent kommen kann. Außerdem solle die Zusammensetzung des Warenkorbs, der als Grundlage für den Index gilt, verändert werden. Anfang März wurden zusammen mit der Regierung und den Gewerkschaften Maßnahmen beschlossen, um die Gehaltssteigerungen kontrollierbar zu machen, etwa mit staatlichen Maßnahmen wie einem Preisdeckel für Energie, der die Inflation dämpft.

Auch in Belgien steht der Index bei den Arbeitgebern in der Kritik. Laut einer Umfrage des Verbands der Selbstständigen, Unizo, halten neun von zehn Unternehmen das System der Lohnindexierung für unhaltbar. Die Umfrage zeigte auch, dass Unternehmen sich auf die steigenden Lohnkosten vorbereiten, indem sie zum Beispiel auf Investitionsprojekte verzichten.

Gewerkschafter Thomas Miessen aus Brüssel setzt sich dagegen für den Erhalt des Indexes ein, denn am Ende würden nicht nur die Arbeitnehmer profitieren. "Für die Wirtschaft schafft dies Stabilität." Da man wisse, wie die wirtschaftliche Entwicklung verlaufe, könnten Unternehmen Vorausrechnungen machen. Zudem bleibe die Binnennachfrage stabil, "was in Zeiten hoher Inflation in anderen Ländern ganz anders sein kann“, gibt Miessen zu bedenken. 

Diskussion um Indexlöhne bald wieder passé?

IWH-Präsident Gropp rechnet damit, dass die Diskussionen um Indexlöhne abnehmen werden, sobald die Inflationsrate deutlich gesunken ist. So würden alle führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in diesem Jahr mit einem Rückgang der Inflation rechnen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) sagt beispielsweise für 2023 eine Teuerungsrate von 5,4 Prozent voraus, die 2024 auf 2,2 Prozent fallen soll.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Umschau | 28. März 2023 | 20:15 Uhr

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