Nach dem Superwahljahr Unsichere Prognosen für die politische Wetterlage
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27. Dezember 2019, 05:00 Uhr
Mittlerweile sind sichere Wahlumfragen genauso schwierig und unsicher wie Wettervorhersagen. Das beste Beispiel waren im vergangenen Jahr die Europawahlen. Kaum jemand hatte mit dem Einbruch bei den sogenannten Volksparteien gerechnet. Die Folgen dieser Wahlentscheidung sind bis heute zu spüren. Die Große Koalition steht seitdem immer wieder auf der Kippe. Aber wahrscheinlich hält sie durch - meint unser Hauptstadtkorrespondent Tim Herden.
Ein Wetterbericht beginnt immer mit dem Blick zurück auf den Wolkenzug in den letzten Stunden. Hier in Deutschland war es das Sturmtief Europawahl. Es brach am 26. Mai, 18 Uhr, über eine weitgehend unvorbereitete politische Landschaft herein.
Es hatte vorher einige Vorboten gegeben. Die Klage des jugendlichen Youtubers Rezo über den Mangel an Vorsorge gegen die Klimakatastrophe war als Sturmböe durch das politische Berlin gezogen. Und es gab die Demonstrationen der Jugendbewegung "Fridays for future". Sie wurden von den politischen Parteien bis auf die Grünen als laues Lüftchen abgetan. Thunberg und Co. sollten die Dinge den Profis überlassen, tönte FDP-Chef Christian Lindner.
Folgenschweres Unwetter Europawahl 2019
Doch dann brach der Sturm los. Die sogenannten Volksparteien Union und SPD sanken unter die bisherigen roten Linien. CDU/CSU schrumpften auf 28,9 Prozent. Den Sozialdemokraten stand das Wasser Unterlippe Oberkante mit nur noch 15,8 Prozent. Retten konnten sich die Grünen auf bisher ungeahnte bundesweite Höhen mit 20,5 Prozent. Die AfD hält mit 11 Prozent den Kopf oben, während Linke und FDP bei 5,5 beziehungsweise 5,4 Prozent nur knapp dem Untergang entgehen.
Tief für Union und SPD, Hoch für die Grünen, AfD stabil
Vor der Europawahl hatten die politischen Meteorologen der Parteien erklärt, das Ergebnis hätte keine Auswirkungen auf die Innenpolitik in Deutschland. Doch dann sahen sie erstaunt auf das Trümmerfeld, das der Wähler hinterlassen hatte.
Andrea Nahles war das erste Opfer des politischen Erdrutsches der Sozialdemokraten und die Genossen versuchen bis heute, sich dem Sog in die Tiefe ohne Erfolg zu entziehen. Nach sechs Monaten versucht man nun mit dem neuen, überraschenden Führungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Boden unter die Füße zu bekommen.
Auch in der Union herrscht Land unter. Merkels Nachfolgerin als CDU-Parteivorsitzende, Annegret Kramp-Karrenbauer, griff im Ringen ums politische Überleben nach der Katastrophe nach dem Strohhalm des Zweitjobs als Verteidigungsministerin. Nur mit Mühe kann sie sich aber nach weiteren Stimmenverlusten in Sachsen, Brandenburg und Thüringen über Wasser halten und muss sich immer wieder Friedrich Merz erwehren, der sie gern in die Tiefe ziehen möchte.
Dagegen befinden sich die Grünen durch die Klimaschutz-Debatte auf scheinbar sicherem Terrain mit anhaltenden Werten über 20 Prozent. Sie haben den Wetterumschwung durch das Thema Klimaschutz kommen sehen. Die AfD hält gegen. Sie glaubt, mit ihrem mittlerweile sicheren Fundament in der politischen Landschaft den Beweis zu haben, dass die Geschichten um Folgen der Erderwärmung Quatsch sind und zieht so auch viele auf ihre Seite.
Durchwachsene Aussichten, aber GroKo hält durch
So gehen wir ins Politikjahr 2020. Die Aussichten sind durchwachsen. Anders als im Vorjahr 2019 und im Folgejahr 2021 drohen theoretisch kaum neue Sturmfluten durch viele Landtagswahlen.
Nur in Hamburg wird im Februar 2020 gewählt. Die neue SPD-Führung blickt allerdings angstvoll auf das politische Barometer der Hansestadt. Hier droht ein weiterer sozialdemokratischer Ministerpräsident, hinweggespült zu werden. Das könnte die Lust der SPD steigern, vom Dampfer der Großen Koalition über Bord zu springen. Oder sie sucht ihr Heil in andauernder Meuterei gegen Merkel und die Union mit neuen Forderungen nach einem Kurswechsel wie einem höheren Mindestlohn und mehr Investitionen in Milliardenhöhe. Dafür könnte auch die Flagge der schwarzen Null gestrichen werden, selbst wenn man dafür den eigenen Mann, Finanzminister Olaf Scholz, auf einer einsamen Insel aussetzen muss.
Gegen einen Schiffbruch der Großen Koalition spricht allerdings die schwierige Passage durch die EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020. Unter deutscher Flagge muss entschieden werden, wie nach dem Ausstieg der Briten die knapper werdenden Gelder aus Brüssel verteilt werden, an strukturschwache Regionen und an die Bauern.
Zeit für Kurskorrekturen nach rechts und links?
Die Union wird weiter streiten, mit wem sie für die Bundestagswahlen 2021 die besten Überlebenschancen als KanzlerInnen-Partei hat. Die bisherige Steuerfrau Merkel schaukelt in der Hängematte der Außenpolitik und interessiert sich nicht mehr viel für die Untiefen der Innenpolitik. Während AKK und Merz um ihren Platz auf der Brücke streiten, halten sich CSU-Chef Markus Söder und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet bereit, im Notfall das Steuer zu übernehmen.
Auch gibt es einen nicht unbeträchtlichen Teil der Unionsmannschaft, der zukünftig gern auch mit der AfD unter gemeinsamer Flagge segeln würde. Lockerungsübungen kündigen sich gerade in der CDU Thüringens an. Wenn sie den geschäftsführenden Ministerpräsidenten Ramelow, wie angekündigt, gemeinsam mit der FDP vor sich hertreiben will, braucht sie die Stimmen der Rechtsnationalen.
Auf der anderen Seite basteln im Bund SPD, Grüne und Linke an einem gemeinsamen Traumschiff unter grün-rot-roter Flagge. Die Chancen für einen Stapellauf nach der nächsten Bundestagswahl sind nicht völlig aussichtslos, wenn die Grünen auf der Höhe der jetzigen Prognosen bleiben und SPD sowie Linke wieder mehr Stabilität gewinnen.
Aufziehendes Sturmtief Rezession
Einen Strich durch die Rechnung könnte das aufkommende Sturmtief einer Wirtschaftskrise sein. Grund sind übrigens nicht allein die Handelskonflikte mit den USA. Deutschland hat seine Infrastruktur nicht wetterfest gemacht für das Zeitalter der Digitalisierung und Elektromobilität. Durch den Ausstieg aus Kernenergie und Kohle drohen Lecks in der Energieversorgung. Der Ausbau der Windkraft und des dazugehörigen Stromnetzes erfolgt viel zu langsam und ist zum neuen Streitobjekt mit den Bürgern in den betroffenen Regionen geworden. Überhaupt drosseln die vielen Planungsvorschriften den Schub die Modernisierung von Schienenwegen, Straßen und Telekommunikation.
Es bleibt also ungemütlich und wir Bürger sollten uns warm anziehen.