Mega-Stau Nachbarschaftshilfe: Polen versorgen Autofahrer auf A4

19. März 2020, 11:24 Uhr

Die Situation an den deutsch-polnischen Grenzübergängen spitzt sich zu. Kilometerlange Staus auf den Autobahnen. Auf der A4 sitzen die Menschen seit mehr als 30 Stunden fest. Sie wollen nach Polen. Nun haben sich Einwohner von Zgorzelec und aus der Umgebung zusammengetan, um den Menschen auf deutscher und polnischer Seite zu helfen.

"So etwas kenne ich aus meiner Kindheit, als ich mit meinen Eltern die Grenze überquert habe. Jetzt ist es wieder soweit und niemand weiß, wann das endlich vorbei ist“, sagt Marta Wawrzeło aus Zgorzelec. Staunend blickt sie dabei auf den Mega-Stau auf der A4. 

Seit Sonntag sind die Grenzen nach Polen dicht. Angekündigt hat die polnische Regierung das am Freitagabend. Ausländer müssen – mit Ausnahmen – draußen bleiben. Polnische Staatsbürger dürfen zwar rein, werden aber an der Grenze medizinisch untersucht und ihre Körpertemperatur gemessen. Zudem müssen sie sich verpflichten, 14 Tage lang zu Hause unter Quarantäne zu bleiben und ihre Adresse anzugeben. Das alles kostet Zeit und so wurden auch die Schlangen an den Grenzübergängen immer länger: Stundenlanges Ausharren im Auto, ohne etwas zu essen, zu trinken, ohne Toilette, ohne Waschmöglichkeiten.

"Wir haben am Sonntag auf Facebook eine Nachricht von einem Fahrer gelesen, der die Umstände beschrieben hat. Ihm ging das ganze Trinkwasser aus und der Grenzübergang war lange nicht in Sicht", erzählt Marta Wawrzeło. Das war der Impuls für eine Solidaritäts-Aktion, die Marta und ihr Mann ins Leben gerufen haben. Die Einwohner von Zgorzelec und Umgebung versorgen die Reisende seitdem mit Lebensmitteln, Wasser und Saft. 

Helfer bringen Wasser

Aus Zgorzelec werden Lebensmittel und Wasser von Marta Wawrzeło und ihren Mitstreiter zur Autobahn gebracht_Agnieszka Hreczuk
Aus Zgorzelec werden Lebensmittel und Wasser von Marta Wawrzeło und ihren Mitstreitern zur Autobahn gebracht. Bildrechte: Facebook

Von Anfang an ist auch Michał Niebudek dabei. Im Internet hat er die Fotos von den langen Schlangen auf der Autobahn gesehen. "Ich habe mehrere Kisten Wasser gekauft und bin zum Grenzübergang gefahren", so Michał. Er ist selbst Berufspendler, doch solche Bilder hat er noch nie gesehen. Ein wildfremder Mann habe ihm im Supermarkt noch einen Kasten extra bezahlt, als er erfahren hatte, wohin das Wasser geht. "Er sagte, dass ihm die Menschen an der niederländischen Grenzen auch geholfen haben." Die erste Flasche sei an ein Ehepaar gegangen, die schon seit 31 Stunden im Stau gestanden haben, erzählt Michał Wawrzeło. Seitdem hilft er immer nachmittags nach der Arbeit.

Unterstützung bekommen die Helfer von lokalen Restaurants und Handelsketten. Berufspendler wie Michał haben einen Passierschein. Sie können zwischen Polen und Deutschland hin und her fahren, ohne in Quarantäne zu müssen. Insgesamt sind etwa 100 Menschen an der Hilfsaktion beteiligt. Dazu kommen Freiwillige aus dem Krankenhaus in Zgorzelec, die mit ihrem Krankenwagen mehrmals täglich Menschen im Stau beliefern. Das alles bezahlen sie aus eigener Tasche.

Lob und Kritik für Initiative aus Zgorzelec

"Ihr seid toll!", "Ich freue mich, dass sich Polen doch so solidarisch zeigen können", oder "Das Wasser habe ich dringend gebraucht, danke!", kommentieren die Menschen in den sozialen Netzwerken. Doch es gibt auch Gegenstimmen: "Warum fahrt ihr hin und her und verbreitet das Virus in Zgorzelec?“, fragt ein Nutzer. Ein anderer vermutet, dass es unter den Fahrern viele Kranke geben könne. "Ja, wir merken es schon, dass einige unsere Initiative schlecht finden und uns gegenüber feindlich sind – aber solche Panik ist übertrieben", so Michał Wawrzeło.

Die Hilfsaktion entwickelt sich: Während die einen Lebensmitteln liefern, bieten andere den Reisenden auf der polnischen Seite ihr eigenes Badezimmer an, um sich vor der Weiterfahrt frisch zu machen. Einen warmen Kaffee gibt es obendrauf. "Allerdings fühlen sich viele Helfer im Stich gelassen und vermissen eine systematische Unterstützung der Behörden", beklagt sich Michał.

Grenzübergang Jędrzychowice-Ludwigsdorf Motorradfahrer bringen die Infokarten und Wasser den im Stau stehenden Reisenden_Agnieszka Hreczuk
Grenzübergang Jędrzychowice-Ludwigsdorf: Motorradfahrer bringen den Reisenden im Stau Wasser. Bildrechte: Facebook

Seit Mittwoch ist der Übergang Görlitz-Zgorzelec wieder für Fußgänger und PKW geöffnet. Doch an den langen Staus auf der A4 hat das wenig geändert. Die LKW-Fahrer können nicht ausweichen. "Es wird noch mindestens zwei, drei Tage dauern, bis sich die Situation an der Autobahn beruhigt – und auch dann werden bestimmt immer noch genug Fahrer auf unsere Hilfe angewiesen sein", sagt Helferin Marta Wawrzeło.

Infektionen im Grenzgebiet

In Niederschlesien, das an Sachsen grenzt, gibt es offiziell 38 mit Coronavirus infizierte Menschen. Im Lebuser Land, woher der erste in Polen identifizierte Kranke stammt, zwei (Stand: 18.03). In Zgorzelec selbst wurde erst am 17. März der erste Infizierte bestätigt – ein Chirurg im städtischen Krankenhaus. 

Kritiker behaupten: Das seien zwar wenig Infizierte, jedoch würden auch wenige Tests durchgeführt. Tatsächlich könnte es im Grenzgebiet also viel mehr Infizierte geben. Ohnehin ist die Situation in den medizinischen Einrichtungen der Region kritisch: Das Krankenhaus der Stadt Bolesławiec hat zu einer Spendenaktion aufgerufen, denn dem Personal fehlt die nötige Ausstattung: Schutzkleidung, Handschuhe, Mundschutz, Desinfektionsmittel, Schutzbrillen. Auch Feuerwehrleute in Zgorzelec, die Reisende medizinisch untersuchen, bitten im Internet um Thermometer, weil ihre nach drei Tagen Dauereinsatz kaputt sind.

Zgorzelec wie ausgestorben

Dafür wirkt die Stadt Zgorzelec wie ausgestorben. Die polnische Aktion "Bleib zu Hause" zeigt Wirkung. Einkaufszentren, Schulen und Ämter sind zu, die meisten Angestellten sind auf Homeoffice umgestiegen oder im Zwangsurlaub geschickt worden. Einen Mangel an Lebensmittel gibt es in den Läden nicht.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 18. März 2020 | 17:45 Uhr

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