Gleichstellung von Menschen mit Behinderung Russland: Echte Freunde durch Instagram
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06. Mai 2020, 12:30 Uhr
Während viele russische Bürger Corona bedingt jetzt in die Selbstisolation müssen und kaum noch das Haus verlassen können, ist dieser Zustand für Sascha aus Nischni Nowgorod nichts Neues. Denn er sitzt wegen einer Krankheit im Rollstuhl. In Russland sind Menschen mit Behinderung immer noch Bürger zweiter Klasse. Doch Sascha ist Optimist und holt sich mit Hilfe sozialer Netzwerke buchstäblich die Welt nach Hause.
"Hallo, Freunde! Lange haben wir Wanja nicht gesehen", sagt Sascha. In seiner Hand hält er einen Selfiestick, an dem sein Smartphone befestigt ist. Damit filmt er seinen Mitbewohner Wanja. Der trägt Kochmütze und Schürze und rührt in einer Schüssel. "Heute gibt es einen Quarkstreuselkuchen, was Süßes zum Tee", sagt er. Beide drehen für eine neue Folge von In Saschas Küche, eine Art Kochshow, die Sascha auf seinem privaten Instagram-Kanal veröffentlicht.
Sascha heißt mit vollem Namen Alexander Khorkov, ist 40 Jahre alt und lebt mit seinem Mitbewohner in einer WG im russischen Nischni Nowgorod. Seit etwa zwölf Jahren sitzt er im Rollstuhl, weil er seit seiner Geburt an einer Muskelschwächeerkrankung leidet. Im Sitzen kann er seine Füße gerade mal zehn Zentimeter anheben. Seine Arme bekommt er nur mit viel Schwung nach oben.
Meine Krankheit macht mich nicht depressiv. Manche Menschen sind heute gesund und am nächsten Tag passiert etwas. Für sie ist es schlimm. Aber bei mir hat sich das ganz langsam seit der Kindheit entwickelt.
Traum vom Instagram-Erfolg
Trotz seiner Krankheit ist Sascha Optimist und hat immer wieder neue Ideen. Seine neueste ist die Kochshow auf Instagram. Mehrmals in der Woche lädt er Leute zu sich in die Wohnung ein: Freunde und Bekannte, oder Menschen, die über Instagram auf ihn aufmerksam geworden sind. Sie kochen oder backen etwas und Sascha filmt sie dabei. Am Ende wird gemeinsam gegessen. Die Rezepte der Gerichte veröffentlicht er auch auf seinem Kanal.
Viele Follower hat Sascha bisher noch nicht. Etwas mehr als 950 Abonnenten verfolgen seine Storys – wenig im Vergleich zu bekannten Influencern mit Abonnentenzahlen in Millionenhöhe. Trotzdem träumt Sascha davon, auf Instagram bekannt zu werden und irgendwann mit Werbung Geld zu verdienen. Eine Arbeit hat der studierte Marketingmanager nicht.
Neue Küche durch Kontakte
Als Mensch mit Behinderung ist es in Russland schwer für sich allein zu sorgen. Laut staatlicher Statistikbehörde Rosstat hatten 2019 knapp 15 Prozent von ihnen eine Arbeit. Zum Vergleich: In Deutschland arbeiteten 2017 etwa 50 Prozent der Menschen mit Behinderung. Vom Staat bekommt Sascha monatlich umgerechnet etwa 250 Euro. Die reichen bei weitem nicht zum Leben aus. Durch die Kochshow spart er etwas Geld für Lebensmittel. Denn seine Gäste bringen die Zutaten mit.
Durch seine Kontakte auf Instagram hat er auch seine neue Küche bekommen. Die Designerin eines Küchenstudios war durch seine Kochshows auf ihn aufmerksam geworden. "Sie hat gesagt, dass ich immer gut gelaunt, nicht aufgesetzt und kein Schauspieler bin", erzählt Sascha. "Sie wollte mir helfen."
Barrierefreie Einrichtung
In seinen Videos sah sie seine alte heruntergekommene Küche. Die Wände wurden das letzte Mal vor etwa 20 Jahren gestrichen. Mit Freunden legte sie zusammen und spendierte ihm eine neue Kücheneinrichtung. Die neue Küche sieht in seinen Videos nicht nur besser aus, sie ist für Sascha auch einfacher zu nutzen. Herd und Arbeitsplatte sind etwas niedriger. So muss er die Arme nicht so hoch heben, wenn er etwas auf die Fläche stellen will. Die Schränke verfügen nun über Schiebetüren und lassen sich so für einen Rollstuhlfahrer bequemer öffnen.
Auch wenn Sascha vom großen Erfolg auf Instagram noch weit entfernt ist, mit seiner gut gelaunten Art erreicht er die Menschen. "Mir schreiben viele Leute, dass ich sie emotional berühre. Wenn es ihnen schlecht geht, schauen sie sich meine Videos an und sehen wie ich mich trotzdem freue und lache. Und sie verstehen, dass es ihnen nicht so schlecht geht."
Kaum Rampen oder Fahrstühle
Über seinen Alltag als Mensch mit Behinderung will er auf Instagram nicht so viel erzählen. "Was soll ich denn schreiben?", fragt er. "Dass es mir schwer fällt, allein auf die Toilette zu gehen, oder mich zu waschen? Das ist eher traurig und nichts, worüber man sich freuen kann."
Es sei nicht sehr interessant darüber zu schreiben, wie schwer es für ihn ist, wenn er das Haus verlässt. Denn an vielen Orten kommt er mit dem Rollstuhl nicht weiter, weil Rampen oder Fahrstühle fehlen oder die Gehwege und Straßen in einem schlechten Zustand sind. "In Moskau soll das jetzt schon viel besser sein", sagt er. "Aber bei uns in Nischni Nowgorod ist das noch ziemlich schlecht."
Abgesenkter Bordstein auf eigene Rechnung
Bis vor zwei Jahren gab es auch noch keinen abgesenkten Bordstein an der Straße neben seinem Wohnhaus. Sascha wandte sich an die örtlichen Behörden, doch die hätten kein Geld gehabt, die Bauarbeiten zu bezahlen, erzählt er. Also kümmerte er sich selbst und zahlte zunächst die Rechnung für die Arbeiten. Danach spendeten ihm Freunde und Bekannte Geld und konnten ihm seine Ausgaben ersetzen. Die Stadtverwaltung gab keine Mittel dazu, ließ aber dafür an vier anderen Straßenübergängen in der Nähe seines Hauses den Bordstein absenken. So kann nun auch Sascha ab und zu mal das Haus verlassen, auch wenn es für ihn sehr mühsam ist.
Sascha lässt sich von seinen Einschränkungen nicht unterkriegen. Mit seiner offenen und kontaktfreudigen Art hat er sich ein Netzwerk aufgebaut, das ihm auch jetzt durch die schweren Zeiten hilft.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR FERNSEHEN | 22. November 2019 | 17:45 Uhr