Ein Mann sitzt vor einer Schreibmaschine und tippt auf dieser.
Ulrich Aust Bildrechte: Danko Handrick

Vor 30 Jahren: Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge In der Prager Botschaft bin ich 1989 noch einmal geboren worden

28. September 2019, 05:00 Uhr

Ulrich Aust war im Sommer 1989 zwanzig Jahre alt und in die Prager Botschaft der Bundesrepublik geflohen, um seine Ausreise in den Westen zu erzwingen. "Es waren die bewegendsten Tage meines Lebens", erinnert sich Aust. Mit den heutigen Flüchtlingen mag er sich nicht vergleichen. Wir waren beschützt in der Prager Botschaft, sagt er. "Es konnte uns eigentlich nichts passieren."

30 Jahre sind seit Ihrer Flucht in die Prager Botschaft der Bundesrepublik vergangen, Herr Aust. Wie fühlen Sie sich heute?

Hervorragend. Wirklich. Meine Hoffnungen von damals sind eigentlich voll erfüllt worden.

Wie präsent sind die Erinnerungen an die Wochen in der Botschaft heute noch?

Sie sind fast immer präsent. Mich beschäftigt dieses Thema vor allem aber auch dann, wenn ich Gespräche führe mit Leuten, die das Geschehene nicht würdigen. Wenn ich höre, dass sich Leute abfällig über die Demokratie in unserem Land äußern und dann vielleicht auch noch Sprüche klopfen wie "früher war doch alles besser", dann steigt mein Blutdruck ins Unermessliche.

Was bewog Sie damals zur Flucht?

Ich war hin- und hergerissen im Sommer '89. Denn das ist ja nicht so ohne, die Heimat zu verlassen, die Eltern, die Freunde. Andererseits sah ich, wie die Botschaft in Prag immer voller wurde. Ausgerechnet am 25. September bin ich von zwei Stasi-Leuten aufgesucht worden, weil ich die große Klappe in meinem Betrieb gehabt hatte. Und da habe ich noch am selben Tag den Entschluss gefasst: Jetzt musst du gehen! Eigentlich bin ich der Stasi dankbar. Die haben mir zwar Angst gemacht, aber andererseits auch den Mut gegeben, endlich abzuhauen. Sonst hätte ich vielleicht noch länger gewartet oder wäre nicht gegangen. Aber so hab ich mir gesagt: Nichts wie weg!

Gibt es eine Begebenheit in der Botschaft, die sich Ihnen besonders eingeprägt hat?

Eigentlich dieses permanente Anstehen in der Botschaft. Man hat ja nichts zu tun gehabt. Also hat man angestanden - entweder beim Roten Kreuz, um Lebensmittel zu bekommen, oder an der Klo-Schlange. Und es war immer so gewesen, dass ich einige Stunden bei der Essenausgabe anstehen musste, und als ich dann endlich dran war, gab es keine Suppe mehr. Und dann sah ich einmal einen jungen Mann mit einem halben Brot unterm Arm und fragte ihn, ob er mir eine Scheibe abgeben würde. Das tat er auch. Und dann hatte ich mal ein Stück Brot zwischen den Zähnen. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die ganzen drei Tage, die ich in der Botschaft war, nichts weiter gegessen.

Wie war der Zusammenhalt unter den Flüchtlingen?

Wir saßen alle in einem Boot. Und die anderen Flüchtlinge vermittelten mir die Sicherheit, nicht ganz falsch gehandelt zu haben. Denn es gab schon Zweifel, ob das alles richtig ist, was ich gerade unternehme. Aber, dachte ich mir, so viele Menschen können nicht irren. Und so verschwanden meine Zweifel. Alle redeten miteinander und machten sich gegenseitig Mut.

Haben Sie Freunde gefunden in der Botschaft?

Nein. Mit einem jungen Mann, der ebenfalls in die Botschaft geflüchtet war, habe ich noch ein paar Wochen lang telefoniert, aber dann schlief der Kontakt auch wieder ein.

28. September 1989: Alle Zufahrtsstraßen zur Botschaft waren für den Autoverkehr gesperrt. Der Grund dafür waren die unzähligen Autos von Botschaftsbesetzern, die die schmalen Straßen verstopften. Überall war Polizei. Plötzlich standen wir vor einer riesigen Flagge in Schwarz, Rot, Gold und ohne Emblem, angebracht an einem vom Scheinwerferlicht bestrahlten wunderschönen Gebäude. Wir waren da! Alle rannten angesichts des Zaunes los, als wäre eine Hundemeute hinter uns her. Die Polizisten sahen zu, wie wir alle hektisch über den Zaun kletterten. (Aus: Rückfahrkarte Pflicht. Eine Fluchtgeschichte von Ulrich Aust)

Interessieren sich heute noch Leute für Ihre Geschichte?

Die jungen Leute interessieren sich kaum dafür, meine jungen Kollegen etwa. Die haben auch keine Ahnung von den Geschehnissen damals. Für die ist das alles auch sehr weit weg. Klar, es sind dreißig Jahre vergangen seither. Unglaublich! Und die sind erst Mitte Zwanzig. Denen könnte ich auch vom Zweiten Weltkrieg erzählen. Für mich dagegen ist es so, als wäre das alles erst vorgestern gewesen. Ich denke sehr oft an die damaligen Geschehnisse.

Was empfinden Sie, wenn Sie heute die Flüchtlingsströme auf der Welt sehen?

Dann sage ich immer: Ich war auch mal ein Flüchtling. Ich weiß, wie Menschen sich fühlen, die ihre Heimat verlassen. Das macht man nicht einfach mal so.

Vergleichen Sie Ihre Lage damals mit der Situation von Flüchtlingen heute?

Das kann man nicht vergleichen. Damals sind Deutsche nach Deutschland geflohen. Wir sind geflohen, um unsere Freiheit zu erlangen. Um ein besseres Leben zu haben. Sicher. Aber das ist doch etwas ganz anderes gewesen.

Welche Bedeutung hatte die bundesdeutsche Botschaft in Prag für Sie?

Das war das Haus der Freiheit. Die pure Anwesenheit der DDR-Flüchtlinge in der Botschaft war eine Demonstration des Freiheitswillens. Das war die einzige Anlaufstelle für uns und ich wusste, dass uns hier geholfen wird. Ich wusste natürlich, wie schwierig das ist aus diplomatischer Sicht, aber es war ja auch die einzige Möglichkeit, Hilfe zu finden. Und ich fand das auch gar nicht schlimm, dass die Zahl der Flüchtlinge in der Botschaft immer weiter anstieg mit jedem Tag. Ich sagte immer, es müssen noch tausend Flüchtlinge rein, denn je katastrophaler die Zustände werden, desto eher rückt eine humanitäre Lösung. Und so war's dann ja auch.

30. September 1989: Gegen 18.30 Uhr ein Aufschrei: "Genscher ist da!" Ich fragte mich: "Was will der hier?" Dass wir durchhalten sollen, antwortete ich mir selbst. Viele Leute erklommen den Zaun, um besser sehen zu können. Es gab Sprechchöre: "Freiheit, Freiheit", "Genscher, Genscher" und "Deutschland, Deutschland". Ich erinnere mich an einen Vorfall. Ein Mann wollte fotografieren. Man riss ihm den Apparat aus der Hand und zog den Film heraus. Der arme Kerl stand fassungslos da und einer rief sogar: "Stasisau!" Ein riesiges Gejohle brach aus, als verschiedene Personen den Balkon des Palais Lobkowitz betraten. Ich erkannte Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters. Die Stimmung war am Überkochen. Wir schrien: "Genscher, Genscher." (Aus: Rückfahrkarte Pflicht. Eine Fluchtgeschichte von Ulrich Aust)

Wie wichtig war es für Sie damals, auf Ihrer Flucht einen sicheren Ort gefunden zu haben in der bundesdeutschen Botschaft?

Wir waren beschützt. Das war das Wichtigste. Der Zaun der Botschaft war die Grenze zwischen der freien und der unfreien Welt. Und wir wussten, dass wir auf der sicheren Seite sind. Und wir hätten ja zum Beispiel auch medizinische Hilfe bekommen. Also wir waren als Flüchtlinge in Sicherheit. Das war uns klar. Es konnte uns eigentlich nichts passieren.

Wo leben Sie heute?

Ich wohne wieder in meiner Heimatstadt Schkopau. 1992 bin ich aus Braunschweig, wo ich mich nach meiner Flucht niedergelassen hatte, wieder zurückgegangen. Ich hatte einen guten Job im Westen, wollte mich aber selbständig machen in meiner Heimat. Ich hatte kein Problem damit, nach Schkopau zurückzukehren. Ich hatte einen Staat verlassen. Und diesen Staat gab es nicht mehr. Und nun konnte ich auch wieder in meine Heimat gehen. Heute arbeite ich auch wieder als Metallbauer.

Waren Sie mittlerweile wieder einmal in der Prager Botschaft der Bundesrepublik gewesen?

Ich fahre seit vielen Jahren mindestens zweimal pro Jahr nach Prag. Es ist immer wie eine Pilgerfahrt. Mein erster Weg führt mich stets zur Botschaft. Und da stehe ich dann an dem Zaun. Oft treffe ich dort auch Touristen und komme mit ihnen ins Gespräch. Und dann halte ich manchmal auch so eine Art Geschichtsunterricht und erzähle ihnen von den damaligen Ereignissen.

Warum zieht es Sie immer wieder zurück?

Ich sage immer: Die Botschaft ist mein zweiter Kreißsaal gewesen, ich bin dort gewissermaßen noch einmal geboren worden. Es waren tatsächlich die bewegendsten Tage meines Lebens.

Zwei Männer vor einer Trabant-Skulptur
Ulrich Aust 2018 vor der Trabant-Skulptur im Garten der bundesdeutschen Botschaft in Prag. (Links ein Mitarbeiter der Botschaft.) Bildrechte: Ulrich Aust

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV in "Heute im Osten" 28.09.2019 | 18:00 Uhr

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