Russland Hilfe für Rentner in Sankt Petersburg: Wohltäterin wider Willen

12. August 2019, 15:34 Uhr

In Alexandra Sinjaks Lokal in Sankt Petersburg bekommen Rentner kostenloses Essen, finanziert aus Privatspenden. Der Andrang ist so groß, dass sie mittlerweile zwei weitere Lokale eröffnet haben.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Wohltätigkeit, das sagt Alexandra Sinjak freimütig, sei nie ihre Sache gewesen. Stattdessen wollte sie immer Geld verdienen. Seit sie 18 Jahre alt ist, hat sie gearbeitet: Feste und Hochzeiten organisiert, Restaurants und ganze Nachtklubs betrieben. Auch heute ist sie Chefin eines Lokals und könnte eigentlich zufrieden sein. Doch für die Unternehmerin in ihr ist das, was gerade vor ihren Augen passiert, ein Albtraum.

Ihr kleines Restaurant "Dobrodomik" ist mal wieder voll mit Gästen. Kellner schwirren zwischen den Tischen hin und her, Besteck und Geschirr klirren, ein Stimmenwirrwarr füllt die beiden Räume, in denen etwa 50 Gäste Platz finden. In jeder anderen Gaststätte würde jetzt die Kasse klingeln, aber hier muss niemand für das Essen bezahlen.

Der Mensch in ihr, sagt Sinjak, könne nicht anders. "Würden sie es übers Herz bringen, einer dieser Omis zu sagen, dass sie plötzlich nicht mehr hier essen können?", fragt die Wirtin. Zusammen mit ihrem Mann betreibt sie das kostenlose Restaurant für bedürftige Senioren in Sankt Petersburg. Das Dobrodomik hat sich längst zu einer Institution gemausert. Aufhören und hinschmeißen — das kommt für die Besitzerin nicht mehr in Frage.

Kaum Geld zum Leben

Ihr ehemaliges Lokal in der Nachbarschaft, das "Tschechische Häuschen", hat die Wirtin längst aufgegeben. Dort begann die Geschichte, die Sinjak zur Wohltäterin wider Willen machte. "Wir hatten einen älteren Herren, einen Stammgast, der bei uns kostenlos gegessen hat – bis eine unerfahrene Kellnerin von ihm eines Tages Geld verlangt hat", erzählt die Wirtin. Daraufhin sei er nicht wiedergekommen: "Ich hatte schlechtes Gewissen und habe einen Aushang gemacht, dass Rentner bei uns kostenlos speisen können – in der Hoffnung, dass er wiederkommt."

Stattdessen jedoch kamen andere Rentner aus dem Viertel. Erst einige wenige, dann immer mehr, bis die zahlenden Gäste in Unterzahl waren. "Irgendwann mussten wir einfach zumachen. Ich war nur noch damit beschäftigt, für den nächsten Tag irgendwo 30 Kilo Fleisch aufzutreiben", sagt Sinjak. In ihrem neuen Restaurant, dem Dobrodomik, gibt es nur noch kostenloses Essen. Jeden Tag, rechnet die Wirtin vor, braucht sie etwa 55.000 Rubel, ungefähr 700 Euro, um es am Laufen zu halten. Ein Essen kostet umgerechnet 70 Cent. Auf der Tageskarte stehen etwa Hähnchen mit Reis, eine Gemüsesuppe und Rote-Beete-Salat.

Die Renten bei uns sind so klein, viele Senioren bekommen lediglich 150 Euro im Monat. Bei einigen bleibt nach Abzug der Strom- und Wasserrechnung und ein paar Apothekenbesuchen kaum noch etwas übrig.

Alexandra Sinjak, Restaurant-Chefin

Die Gäste sind zufrieden

Nadeschda Ermakowa führt Zeigefinger und Daumen  in der Luft zusammen, bis nur noch ein kleiner Spalt sie trennt. So klein, sagt sie, sei ihre Rente. Die Siebzigjährige lebt schon viele Jahre allein. "Das Dobrodomik ist natürlich eine kleine Hilfe für mich. Ich komme immer hierher, wenn das Wetter gut ist und die Gesundheit es zulässt", sagt die Rentnerin. Das Essen sei zwar einfach, aber immer lecker. "Außerdem kennen wir uns ja hier alle schon. Man kann hier ein bisschen quatschen und Zeit verbringen", erzählt Ermakowa.

Behörden drohen mit Strafen

Das Dobrodomik lebt ausschließlich von privaten Spenden. Etwa von einem Milchbetrieb außerhalb von Sankt Petersburg, bei dem Mitarbeiter mehrmals im Monat kostenlose Milchpaletten abholen. Ohne diese Hilfe könnte das Dobrodomik nicht existieren.

Alexandra Sinjaks Familie hat auch fast ihr gesamtes privates Vermögen hineingesteckt und dazu noch Kredite aufgenommen hat, die sie derzeit nicht mehr tilgen kann. Auch das Personal arbeitet unentgeldlich. Lediglich der Koch bekommt ein Gehalt ausgezahlt.

Doch es waren keine rein finanziellen Probleme, die dem Dobrodomik bereits im Frühjahr beinahe den Garaus gemacht hätten. Im Mai 2019 kam plötzlich die lokale Aufsichtsbehörde vorbei und verhängte wegen einer Schmiererei an einer Wand, eines angeblich nicht ordnungsgemäßen Schildes und weiteren kleinerer Verstöße fast 10.000 Euro Strafe. Dann hätten die Prüfer angeboten, die Sache "inoffiziell" für ein Viertel der Summe zu bereinigen – oder das Lokal zuzumachen.

Doch Familie Sinjak läutete die Alarmglocken. Zahlreiche lokale Medien berichteten über den Fall. Angesichts des Skandals ruderte die Bezirksverwaltung zurück, das Dobrodomik konnte nach wenigen Tagen wieder öffnen und musste nur kleinere Mängel beseitigen. Mittlerweile hat Alexandra Sinjak keine Angst mehr, dass sie schließen muss. Vielmehr arbeitet sie an einer Idee, wie das Konzept der kostenlosen Essen für Rentner langfristig finanzierbar werden kann.

Neues Finanzierungskonzept

"Wir bauen derzeit ein zweites Lokal in Petersburg für 1.000 Gäste am Tag. Die Idee ist, dass wir mittags kostenlose Speisen verteilen und wir am Abend ein normales Restaurant für zahlende Gäste bleiben", erklärt Sinjak.

Mit dieser Idee hat sie bereits Interessenten in anderen russischen Städten gefunden, die Wohltätigkeit mit Gewinnstreben kombinieren wollen. Unter der Marke "Dobrodomik" entstanden zwei Restaurants in der Hauptstadt Moskau und Orenburg in Zentralrussland. "Ich bin überzeugt, dass es ein tragfähiges Konzept ist, das auch Geld bringen kann", sagt die Wirtin.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 03. August 2019 | 19:30 Uhr

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