Der Marsch der Lebenden in Auschwitz, 12.04.2018 Würdiges Gedenken oder Holocaust-Tourismus?
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Tausende Juden aus aller Welt haben am 12. April 2018 das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz besucht, um der Opfer des Holocaust zu gedenken. Mit dem "Marsch der Lebenden" erinnerten sie an die Todesmärsche der KZ-Häftlinge. Doch es gibt Stimmen, die den Blick auf den Holocaust in Israel und Polen als zu einseitig kritisieren. Das jüdische Leben in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg werde in beiden Ländern ausgeblendet. Dabei hatte Polen bis zum Holocaust die größte jüdische Gemeinde weltweit.

Seit 30 Jahren versammeln sich am israelischen Nationalfeiertag Yom Hashoa, dem Tag des Gedenkens an Holocaust und Heldentum, Tausende Israelis sowie Juden aus aller Welt im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz. Unter ihnen sind Holocaust-Überlebende und viele junge Menschen. Sie bringen israelische Fahnen mit und laufen in das drei Kilometer entfernte einstige deutsche Vernichtungslager Birkenau, um an die Todesmärsche der KZ-Häftlinge zu erinnern. Die Idee zu diesem "Marsch der Lebenden" war in den 1980er-Jahren als Reaktion auf die Leugnung des Holocaust entstanden. Sie ist als Triumph des Lebens an dem Ort gedacht, an dem die Deutschen rund eine Million Juden vergast oder auf andere Art ermordet haben.
Shmuel Rosenman organisiert den jährlichen "Marsch der Lebenden" seit Jahren. In diesem Jahr erwartete er mit 12.000 Teilnehmern so viele wie noch nie. Er erklärt:
Was war vor dem Holocaust, was danach?
Der Warschauer Geschichtslehrer Robert Szuchta und der aus Polen stammende israelische Historiker Alex Dancyg vom Institut Yad Vashem in Jerusalem arbeiten auch seit 30 Jahren daran, in Polen und Israel das Wissen über die Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges zu verbreiten. Doch ihnen geht es nicht nur um den Holocaust. Sie wollen, dass die Menschen in den beiden Ländern auch möglichst viel über das jahrhundertelange jüdische Leben in Polen vor dem Holocaust erfahren. Und die jungen Israelis sollen Polen nicht nur als den jüdischen Friedhof schlechthin ansehen.
Szuchta und Dancyg organisieren deshalb Kurse für Lehrer aus beiden Ländern und Lehreraustausche, damit zwischen polnischen und israelischen Schulen Verbindungen wachsen. Sie sind beide der Meinung, dass das Unwissen über die gemeinsame Geschichte auf beiden Seiten groß ist.
Die Juden als Tabu im polnischen Unterricht
Robert Szuchta weiß, wovon er spricht. Der Lehrer hatte selbst während seines Geschichtsstudiums kaum etwas vom jüdischen Leben in Polen und vom Holocaust gelernt. Er erinnert sich, dass erst nach der Wende davon die Rede war, dass in Polen Juden gelebt hatten:
1990 organisierte das Jüdische Historische Institut in Warschau Kurse für Geschichtslehrer. Ich war neugierig, ging hin und mir wurde schnell bewusst, dass ich in meinem Geschichtsunterricht ein Zehntel der polnischen Bevölkerung ignoriere.
Szuchta meint damit die 3,5 Millionen Juden, die in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg gelebt haben. Sie machten ein Zehntel der damaligen Bevölkerung aus. Mehr als 90 Prozent von ihnen wurden während des Holocaust ermordet, vor allem in den deutschen Konzentrationslagern im besetzten Polen wie Auschwitz und dessem angegliederten Vernichtungslager Birkenau.
Heute ist der Umgang mit diesem Teil der Geschichte an Polens Schulen nach Einschätzung von Szuchta nicht viel besser. Es falle manchem Geschichtslehrer schwer, dieses Thema im Unterricht anzusprechen. Es hänge immer vom Lehrer ab, ob er über solche Themen mit den Schülern spreche. Viele wüssten mit dem Thema Juden und Holocaust immer noch nichts anzufangen, würden es lieber nicht berühren.
Dancyg: Auschwitz ist kein Ort des Triumphes
Der Historiker Alex Dancyg weiß Ähnliches aus Israel zu berichten. In Israel wisse man zwar viel über den Holocaust, aber nichts davon, dass es davor ein ganz normales jüdisches Leben in Polen gab. Dabei seien die 3,5 Millionen polnische Juden vor dem Zweiten Weltkrieg die größte jüdische Gemeinschaft der Welt gewesen.
Sowohl Dancyg als auch Szuchta kritisieren Veranstaltungen wie den alljährlichen "Marsch der Lebenden" in Auschwitz. Sie seien Teil einer "Holocaust-Industrie", bei der es um Politik und um die Aufmerksamkeit der Medien gehe. Die Geschichte könne man mit solchen Veranstaltungen aber nicht richtig vermitteln.
Auschwitz ist kein Ort für wehende Fahnen, kein Ort des Triumphes. Es ist ein Symbol für die Entwürdigung des Menschen.
Programme für Marsch-Teilnehmer erweitert
Diese Kritik wird in Polen seit Jahren geübt. Nach vielen Debatten wurde das Programm der Märsche erweitert. Viele Teilnehmer weilen inzwischen mehrere Tage in Polen, fahren nicht mehr wie früher vom Flughafen direkt nach Auschwitz und gleich wieder zurück. Sie treffen Vertreter der heutigen jüdischen Organisationen in Polen, zum Beispiel des Jewish Community Center in Krakow.
Für den Organisator des "Marsches der Lebenden", Shmuel Rosenman, ist die Erinnerung an den Holocaust aber das Wichtigste, er ergänzt aber, dass die Teilnehmer "sowohl vom Guten als auch vom Bösen" in den jüdisch-polnischen Beziehungen erfahren sollen. Rosenman: "Es gab in Polen Helden, die ihre jüdischen Nachbarn gerettet haben, aber es gab auch andere Polen."
Präsidenten reichen sich die Hände
Diesen Fokus auf die polnischen Judenretter während des Holocaust verfolgt auch die polnische PiS-Regierung. Und obwohl seit der Verabschiedung des polnischen "Holocaust-Gesetzes" in diesem Jahr die polnisch-israelischen Beziehungen sehr angespannt sind, nahmen beide Präsidenten am 12. April am "Marsch der Lebenden" teil. Es war das erste Treffen auf höchster Staats- und Regierungsebene seit dem Konflikt um das Gesetz.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR aktuell | 12.04.2018 | 17:45 Uhr