Europawahl Polen und die EU: Das Land entfernt sich von Europa

24. Mai 2019, 10:45 Uhr

Vom 23. bis 26. Mai wird das Europäische Parlament neu gewählt. Auch die Polen sind an die Wahlurnen gerufen. Das osteuropäische Land war der EU vor 15 Jahren beigetreten. Unsere Ostbloggerin Monika Sieradzka feierte das damals ausgiebig. Heute bedeutet Europa für sie Vielfalt, Offenheit und Wirtschaftswachstum. Doch für viele ihrer Landsleute scheint die EU vor allem Geldquelle zu sein.

Den Beitritt Polens zur EU habe ich mit einigen Freunden zu Hause gefeiert. Es war Samstag, der 1. Mai 2004. Die Feier hat sich bis in die frühen Morgenstunden gezogen, wir haben Pläne geschmiedet, wohin wir jetzt überall visafrei reisen werden und freuten uns, dass wir nicht mehr Europäer zweiter Klasse sind. Es war so, als ob ein neues Zeitalter beginnen würde. Das sagte ich damals auch in einem Interview mit einem Radiosender aus Schweden. Die schwedische Kollegin Ingrid, eine gute Bekannte von mir, kam nach Warschau, um über Polens EU-Beitritt zu berichten. Die Euphorie der Menschen war so groß, dass sie in der polnischen Hauptstadt vergeblich nach Gegenstimmen gesucht hatte. Als sie sich abends unserer kleinen Party anschloss, sprach sie uns aus der Seele, als sie meinte, dass wir Polen uns die EU-Mitgliedschaft dank unseres  Kampfes gegen den Kommunismus mehr als verdient hätten.

Die Euphorie hält an

Die Euphorie der ersten Stunde dauerte ziemlich lange. Wer sich leisten konnte, reiste ohne Visum nach Teneriffa oder Paris und schickte als Beweis für die neue Freiheit bunte Postkarten nach Hause. Die Wirtschaft florierte, und die von vielen befürchtete Preiserhöhung blieb praktisch aus. Ein halbes Jahr nach dem EU-Beitritt Polens lag die Unterstützung für die EU im Lande bei 75 Prozent, nur zwei Prozent weniger als vor dem Beitritt.

2006, zwei Jahre später, besuchte ich als Reporterin eine Kleinstadt in Nordosten Polens. Jeder zehnte Erwachsene arbeitete schon irgendwo im Westen. Zu Hause saßen Omas, die sich um ihre zeitlich verwaisten Enkelkinder kümmerten. Später bezeichnete man sie als "Eurosenioren" und "Eurowaisen". Damals freuten sie sich alle sehr über die paar Hundert Euro oder Pfund, die jeden Monat nach Hause geschickt wurden.

Monika Sieradzka 1 min
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Frust statt Lust

Zehn Jahre später habe ich den Ort wieder besucht. Unter den "Eurowaisen" gibt es inzwischen frustrierte junge Leute, die ohne Eltern aufgewachsen sind und die EU als ihren Feind betrachten. Im Laufe der Zeit hatte sich gezeigt, dass die EU nicht nur Eltern wegnehmen kann, sondern mit ihren liberalen Werten auch die traditionellen Werte wie den Familienzusammenhalt und den Katholizismus bedrohen kann. Diese Vorstellung wird von der regierenden PiS, die offiziell für die EU steht, aufgefangen und so zum Nährboden für populistischen Parolen - oder noch schlimmer: von den wachsenden nationalistischen Gruppierungen. Zwar ist Polen laut Statistik ein sehr proeuropäisches Land, doch immer mehr Menschen sind von der EU enttäuscht, weil sie keinen direkten Nutzen in ihrem Alltag sehen. Sie sind anfällig für antieuropäische Rhetorik, die Europa zum Feind stilisiert.

Das ist nicht mein Europa

Das ist nicht mein Europa. Für mich bedeutet Europa Vielfalt, Weltoffenheit, Toleranz, Kontakte mit Menschen aus anderen Ländern, Studien- und Arbeitsmöglichkeiten im Ausland und Wirtschaftswachstum. Dass Polens Regierung mit der Justizreform und der Einschränkung der Pressefreiheit die europäischen Werte ignoriert, macht mich wütend und ratlos. Dass Polen, der wirtschaftliche Musterknabe, derzeit in Europa als Spielverderber gilt, finde ich beschämend. Es sieht so aus, als ob wir der EU nur wegen der Gelder beigetreten wären, ganz ohne Rücksicht darauf, dass es sich dabei auch um eine Wertegemeinschaft handelte. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es genau dieselben demokratischen Werte sind, die sich die Polen in ihrem Kampf gegen den Kommunismus groß auf die Fahnen geschrieben hatten.

Ist Polen in der EU noch willkommen?

Heute sehe ich zwischen der EU und Polen eine Mauer wachsen. In letzter Zeit höre ich oft die Frage, wie man denn aus der Warschauer Perspektive auf Europa schaue. Das klingt so, als ob Polen irgendwo außerhalb Europas liegen würde. Käme heute jemand auf die Frage, wie man auf Europa aus der Perspektive Berlins oder Stockholms schaut?

Ähnlich wie Millionen meiner Landsleute fühle ich mich als Europäerin und halte unseren EU-Beitritt für einen Zivilisationssprung. Ist aber dieses europäische Selbstbewusstsein Grund genug, damit man uns Europa immer noch willkommen heißt? Ich weiß nicht, ob meine schwedische Kollegin Ingrid, die 2004 mit uns zusammen jubelte, auch heute jubeln würde.

Ein schreckliches Szenario

Polens nationalkonservative Regierung spricht sich vor den EU-Wahlen mit Italiens rechter Liga ab und kleinere nationalistische Gruppierungen stellen ihre Kandidaten fürs Europäische Parlament, um Europa in seiner heutigen Form in Frage zu stellen. Sie wollen Europa, aber ein anderes, mit starken Nationalstaaten und weniger Kompetenzen von Brüssel. Wird Polen, das einst zum Sturz des Kommunismus beigetragen hatte, jetzt die EU ins Wanken bringen? Ein schreckliches Szenario. Polen liegt nicht außerhalb von Europa. Noch nicht. Doch es scheint sich von Europa zu entfernen. Manchmal denke ich, dass wir weiter weg von Europa sind als 2004.


Über dieses Thema berichtete der MDR auch in der HIO-Reportage "Die "Neuen" – So geht’s Europas Osten" im TV: 27.04.2019 | 18:00 Uhr

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