Gegen den Willen des Kreml Russland im Rap-Fieber

19. Juni 2019, 05:00 Uhr

Eine neue Rapper-Generation verpasst dem ursprünglich westlichen Genre einen russischen Touch - und macht ihn zur wichtigsten Musikrichtung unter jungen Leuten. Den Behörden ist das ein Dorn im Auge: Im vergangenen Herbst wurden Konzerte etlicher Musiker abgesagt. Die lassen sich davon jedoch nicht beirren.

Nach seiner Schicht in einer Sankt Petersburger Werft sitzt Semjon Tsokur in der Küche seiner Einraumwohnung in einem Plattenbau am Stadtrand und träumt von einer besseren Zukunft. Dabei ist der 27-Jährige eigentlich stolz auf seinen Job als Metallarbeiter. Er formt Stahl für Russlands Marineschiffe und Fischkutter:

Das ist ein seltener Beruf. Wir sind so etwas wie Bildhauer für Metall. Aber in Russland wird unsere Arbeit nicht geschätzt.

Semjon Tsokur alias Semmi UP

Etwa das Dreifache seines jetzigen Gehaltes, also rund 1.500-2.000 Euro, wären aus seiner Sicht angemessen. Doch auf eine Gehaltserhöhung hofft Tsokur nicht. Stattdessen reimt er sich die Ungerechtigkeit von der Seele und schreibt unter dem Künstlernamen Semmi UP, was so viel wie Straßenprinz bedeutet, Rap-Songs.

Nummer eins unter Jugendlichen                                          

Derzeit arbeitet Semmi UP an seinem ersten Album. Wenn alles nach Plan läuft, so hofft der Rapper, kann er seinen Job bald an den Nagel hängen und als Künstler durchstarten.

Rap ist derzeit die Musik Nummer eins für die Jugend und eine bessere Zeit als jetzt gibt es nicht.

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Der russische Rapper Semmi UP, im bürgerlichen Leben Werftarbeiter, gehört zu einer neuen Musiker-Generation. Ostblogger Maxim Kireev hat ihn besucht.

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Rap ist russischer geworden

Schon seit Jahren erlebt Rap-Musik in Russland einen Boom. In kurzer Zeit erlangten unzählige Künstler landesweite Berühmtheit.

Lange wirkten russische Rapper, wie etwa der Künstler Timati, wie ein Abklatsch ihrer westlichen Pendants. Mit teuren Autos, Goldketten und knapp bekleideten Frauen zeigten sie sich in ihren Videos, die Texte drehten sich um Partys und Geld. Die neue Rap-Generation hat einen anderen Fokus. Die Texte sind mal depressiv, mal sarkastisch, gespickt mit derben Schimpftiraden und handeln von Drogenproblemen, ungeschütztem Sex oder dem unwirtlichen Leben in der russischen Provinz mit ihren grauen Plattenbauten und Menschen, die oft nichts mit ihrem Leben anzufangen wissen. Die Songs spiegeln heute vielmehr die Lebenswirklichkeit in Russland wider und das, was die Russen bewegt. "Wir sind einfach etwas anders. Unser Rap ist russischer geworden, was ihn noch beliebter macht", meint Rapper Semmi UP.

Behörden verbieten Konzerte

Den Beamten im Moskauer Sicherheitsministerium scheint die neue kritische Rap-Kultur nicht ganz geheuer zu sein. Auf Druck der Behörden mussten Veranstalter im vergangenen Herbst in etlichen Provinzstädten Konzerte absagen. Einer der berühmtesten Künstler der neuen Generation heißt Iwan Drjomin. Auch der 21-Jährige, der unter dem Künstlernamen Face auftritt, musste seine Tour abblasen. Im Sommer hatte er ein Album mit Texten veröffentlicht, die Armut und fehlende Freiheit in Russland anprangern.

Es geht um Tabubruch

Auf Youtube wurde das erste professionell gedrehte Video von Face aus dem Jahr 2017 mittlerweile 35 Millionen Mal geklickt. Er ist ein hagerer junger Mann mit Tattoos im Gesicht und entspricht kaum dem Klischee eines Rappers. "Ich fahre zum Gucci-Shop in Sankt Petersburg. Sie kaut meinen Penis wie einen Burger", wiederholt sich der Songtext in seinem populärsten Song "БУРГЕР" ("Burger"). Weiter heißt es darin: "Du möchtest ein Leben wie ich? Ich glaube nicht". Ist das obszön oder schon Gesellschaftskritik?

In einem anderen Song singt Face davon, wie er ohne Kondome Sex hat, Drogen nimmt und "einen Scheiß drauf gibt". Vor allem bei der Jugend kommen solche Tabubrüche gut an, zumal die russischen Gesetze seit Jahren Schimpfwörter bei Medienauftritten und Konzerten untersagen. Seine Popularität erklärte Face in einem Interview auf Youtube damit, dass die Jugend eben all das gerne mache, wovon er singe, ohne sich Gedanken um die Folgen zu machen.

Ein Song ist schnell produziert

Für die Produktion seines ersten Studioalbums hat Face nach eigenen Angaben gerade einmal drei Wochen benötigt. Für Musikexperten ist das auch ein Grund, warum ausgerechnet diese Musikrichtung derzeit so viele junge Künstler anzieht.

"Rap bringt am meisten Geld ein und es kostet einen Künstler nicht viel, einen Track aufzunehmen und ihn hochzuladen", erklärt Roman Chumakow bei der Vorstellung seines Dokumentarfilms "Beef", der die Geschichte des russischen Raps erzählt. Für Rock brauche es Musiker, Instrumente und eine gute Stimme. Für Rap brauche es nur einen Computer und ein Mikrofon, meint Chumakow.

Nicht den Mund verbieten lassen

Der Sankt Petersburger Rapper Semmi UP lässt sich von dem, was in seinem Leben geschieht und den Problemen in seiner Heimat inspirieren, die er, so sagt er, innig liebe. "Als ich vor zehn Jahren anfing, reimte ich Texte über meine erste Liebe oder darüber, wie ich mit meinem Kampfsport aufgehört habe. Heute sehe ich viele Probleme globaler und interessiere mich für das, was hier bei uns geschieht", sagt er. In einem seiner Lieder sing er etwa von "schließenden Schulen und Krankenhäusern, während im gleichen Moment die vollgefressenen Gesichter herumfurzen" – ein Seitenhieb auf die soziale Ungleichheit in Russland.

"Rap ist für mich Freiheit", sagt Semmi UP. Der beste Beweis dafür war für ihn die Reaktion der Rap-Community auf die Absage von Konzerten und die Verhaftung des gesellschaftskritischen Rappers Dmitri Kusnezow, alias Husky. Seine Kollegen Oxxxymiron, Basta und Noize MC organisierten ein Solidaritätskonzert und sammelten fast 80.000 Euro für Husky, die er später an Menschenrechtsorganisationen spendete. Der Fall schlug so große Wellen, dass selbst Präsident Wladimir Putin anerkennen musste, dass Verbote der schlechteste Weg seien, um dem Rap-Phänomen Herr zu werden. "Eine Hammer-Aktion. Das war der Beweis, dass wir Rapper füreinander einstehen und uns nicht den Mund verbieten lassen", meint Semmi UP.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Heute im Osten-Reportage | 19.11.2016 | 18:00 Uhr

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