Warum Russen Behörden misstrauen Was geschah in Russland? Gerüchteküche nach U-Boot-Unglück

04. Juli 2019, 17:30 Uhr

Bei Unglücken und Katastrophen wie dem jüngsten Brand in einem U-Boot mit 14 Toten gibt sich der Kreml immer wortkarg. Und öffnet damit Raum für wilde Thesen und Gerüchte.

Nur widerwillig rückte Russlands Verteidigungsministerium die wenigen Informationsbrocken zum jüngsten U-Boot-Unglück heraus. Zwei Tage dauert es, bis die Militärs die Namen der 14 Toten veröffentlichten - alles hochrangige Kapitäne. Fast beiläufig erwähnte Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dass der Atomreaktor des verunglückten U-Bootes nicht beschädigt sei. Dabei wollte man noch wenige Tage zuvor keine Informationen herausrücken: Staatsgeheimnis! Doch am Ende musste der Kreml einsehen, dass er nicht in der Lage ist, den Fall geheim zu halten.

Wenn der Kreml schweigt, kommen Gerüchte auf

Den Stein ins Rollen hatte das Lokalportal Severlife aus Seweromorsk gebracht, einem wichtigen Stützpunkt der russischen Nordflotte. Es hatte als erstes von einem Zwischenfall auf einem U-Boot berichtet. Der Artikel wurde später wieder offline genommen, doch die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

MURMANSK REGION, RUSSIA - JULY 3, 2019: Russia s Defence Minister Sergei Shoigu (C) and members of the commission investigating the July 1 submersible fire observe a moment of silence to mourn the 14 Russian Navy officers, during a meeting in Severomorsk.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einer Besprechung zum U-Boot-Unglück. Er bemühte sich zunächst vergeblich um Geheimhaltung. Bildrechte: imago images / ITAR-TASS

Und während der Kreml noch seinen aussichtslosen Kampf um die Geheimhaltung kämpfte, brodelten im Internet die Gerüchte. Aus anonymen Quellen, unvorsichtigen Äußerungen von hohen Beamten und von ausländische Experten trug man zusammen, was nun gewiss scheint: Nämlich, dass der Brand sich auf einem nuklear betriebenen Tauchboot des hochmodernen Typs AS-31 ereignet hat.

Testete die U-Boot-Besatzung neue Geheimwaffen?

Dass es zum größten Flottenunglück in Russland seit dem Untergang des U-Boots Kursk mit 118 Toten keine genauen offiziellen Angaben gibt, ist nicht nur angesichts dieser erdrückenden Last an Indizien bemerkenswert. Das Schweigen sorgt dafür, dass Gerüchte in der Öffentlichkeit Oberhand gewinnen. So spekulierten selbst angesehene Analysten wie Alexander Baunow vom Moskauer Think-Tank Carnegie Center über mögliche Tests neuer Geheimwaffen. Das würde, so Baunow, auch die Anzahl hochrangiger Militärs an Bord des verunglückten U-Boots erklären.

Der bekannte oppositionelle Publizist Wiktor Schenderowitsch interpretierte die Katastrophe dagegen als Folge eines "Krieges, den Putin der ganzen Welt erklärt hat". Das verunglückte U-Boot habe zur Stunde X die Unterseekabel des globalen Internets durchtrennen sollen. "Genau für die Erfüllung solcher Aufgaben gaben die 14 russischen Offiziere nun ihr Leben", schrieb Schenderowitsch auf seinem Facebook-Profil.

Russen zweifeln Behördenangaben grundsätzlich an

MURMANSK, RUSSIA - JULY 3, 2019: People bring flowers to a Navy memorial at the Church of the Saviour on Waters to commemorate 14 Russian Navy officers who died in a fire on a research deep-sea submersible in Russia s northern territorial waters on 1 July 2019.
Viele Russen gedachten der umgekommenen 14 besatzungsmitgliedern. Und ebenso viele zweifelten die offizielle Version der Ereignisse an. Bildrechte: imago images / ITAR-TASS

Dabei ist das jüngste U-Boot-Unglück nur ein Beispiel von vielen, bei denen die russische Öffentlichkeit nicht an die offizielle Version der Ereignisse glaubt und zu Verschwörungstheorien greift. So hatte sich erst vor wenigen Monaten nach einer Gasexplosion in einem Wohnblock mit 39 Toten in der Industriestadt Magnitogorsk wie ein Lauffeuer das Gerücht verbreitet, es habe sich dabei um einen Terroranschlag gehandelt. Eines der vermeintlichen Indizien für die Terrorversion sollte ein Lieferwagen sein, der nur einen Tag nach dem Unglück unweit des eingestürzten Wohnhauses ebenfalls explodierte. Die Nowaja Gazeta warf damals den Behörden mangelnde Gesprächsbereitschaft vor, weshalb das "Informationsvakuum von Gerüchten gefüllt" worden sei. Eine Bestätigung für die Terror-These konnten unabhängige Journalisten später nicht finden.

Ebenso wenig Vertrauen hatten die Menschen in die offiziellen Opferzahlen des Brands im Einkaufszentrum Zimnjaya Wischnja in Kemerowo vor mehr als einem Jahr. Damals waren 64 Menschen ums Leben gekommen. Weil die Einwohner diese Zahl aber viel höher eingeschätzt hatten, gab es zunächst sogar eine Demonstration auf dem zentralen Platz der Stadt. Erst nach einigen Tagen waren die Wogen geglättet.

Dejà-vu für Putin

Für Wladimir Putin dürfte die jüngste Katastrophe gar ein unangenehmes Dejà-vu-Erlebnis gewesen sein. Im August 2000, der damals frisch gewählte Präsident war nicht einmal ein Jahr im Amt, ging das Atom-U-Boot Kursk bei einer Übung unter, weil eine Rakete an Bord explodiert war. Putin sah damals keinen Anlass, seinen Urlaub in Sotschi abzubrechen, und die erste offizielle Mitteilung ging erst zwei Tage nach der Katastrophe in die Welt hinaus.

Gleichzeitig hieß es, dass das Leben der Besatzung nicht in Gefahr sei. Nach mehreren erfolglosen Bergungsversuchen wurden damals norwegische und britische Taucher zu Hilfe gerufen, die eine Woche nach der Explosion am Unglücksort ankamen und nur noch den Tod der kompletten Besatzung feststellen konnten. Später stellte sich zudem heraus, dass ein Teil der Matrosen noch mindestens zwei Tage nach dem Unglück am Leben war und vergeblich auf Rettung wartete.

In einem Interview mit Radio Liberty bezeichnete Boris Kusnetsow, Anwalt der Hinterbliebenen, den Untergang der Kursk als Putins erste große Lüge: "Mit dem Untergang der Kursk begann das Lügen". Damals konnten die Machthaber wichtige Informationen mehrere Tage zurückhalten. Zwanzig Jahre später war der Damm des Schweigens schon nach einem Tag durchbrochen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL Radio | 04. Juli 2019 | 11:30 Uhr

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