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Eine Frau demonstriert vor dem Obersten Gerichtshof der Ukraine für die von Präsident Selenskyj verhängte Auflösung des Parlaments Bildrechte: imago images / Ukrinform

UkraineVorgezogene Wahl wird das Parlament umkrempeln

21. Juni 2019, 13:28 Uhr

In der Ukraine wird am 21. Juli wie geplant die vorgezogene Parlamentswahl stattfinden. Die obersten Richter entschieden am Donnerstag, dass der Erlass des neuen Präsidenten Selenskyj zur Auflösung des Parlaments nicht gegen die Verfassung verstößt. Selenskyj darf nun hoffen, dass seine junge Partei "Diener des Volkes" die absolute Mehrheit erringt. Auf jeden Fall werden die Ukrainer ihre Werchowna Rada nach der Wahl kaum wiedererkennen.

von Denis Trubetskoy

Die aufregende Präsidentschaftswahl, bei der Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj die Nase vorn hatte, ist kaum vorbei, da sind die Ukrainer schon wieder zur Stimmabgabe aufgerufen. In einem Monat, am 21. Juli, sollen sie ein neues Parlament wählen. Das Verfassungsgericht entschied am Donnerstag, dass die Auflösung des jetzigen Parlaments verfassungskonform ist. Selenskyj hatte sich in seinem Erlass darauf gestützt, dass die Regierungskoalition schon seit 2016 nicht mehr über die notwendige Mehrheit verfüge und deswegen faktisch nicht mehr bestehe.

Präsident ohne Rückhalt im Parlament

Der Wahlkampf läuft schon längst auf Hochtouren. Die Bestätigung der vorgezogenen Wahl spielt dem Präsidenten und seiner Partei "Diener des Volkes" in die Hände. Das derzeitige Parlament, in dem die Partei noch nicht vertreten ist, blockiert alle Initiativen des Präsidenten. Selenskyjs Partei kommt jedoch in der jüngsten Umfrage des nicht-staatlichen Umfrageinstituts "Rating Group" auf 47,1 Prozent. Ein phänomenales Ergebnis für eine Partei, von der die meisten bis vor drei Wochen bestenfalls den Namen kannten.

"Diener des Volkes"Die "Sluha narodu" ist die Nachfolgerin der "Partei der entscheidenden Veränderungen". Diese war 2016 registriert und bereits Ende 2017 in "Diener des Volkes" umbenannt worden. Erster Vorsitzender war Iwan Bakanow, Rechtsanwalt der von Selenskyj gegründeten Firma "Studio Kvartal 95". Bakanow wechselte im Mai dieses Jahres in den Staatsdienst. Für ihn rückte Dmytro Rasumkow nach, der an vorderster Stelle in Selenskyjs Wahlkampfteam gewirkt hatte. Die Partei wurde dann im Juni mit Blick auf die vorgezogene Parlamentswahl erstmals aktiv und stellte Kandidaten auf.
Die Partei trägt denselben Namen wie die überaus erfolgreiche Satire-Serie, in der Selenskyj ab 2015 einen Lehrer gespielt hatte, der zufällig Präsident der Ukraine geworden ist.

"Diener des Volkes" winkt die absolute Mehrheit

In der Ukraine wird die Hälfte des Parlaments über Listen von Parteien gewählt. Die andere Hälfte der Sitze wird direkt in den Wahlkreisen verteilt. Sollten die Direktkandidaten von "Diener des Volkes" auch hier gut abschneiden, dürfte für die Präsidentenpartei die absolute Mehrheit möglich sein. "Das wäre natürlich schön", sagt Parteichef Dmytro Rasumkow, der wichtigste Polittechnologe während des Präsidentschaftswahlkampfes von Selenskyj. Er führt die Liste an.

Viele Polit-Neulinge, aber auch Prominenz

Das Besondere an der Liste für "Diener des Volkes" ist, dass viele unbekannte Kandidaten darauf stehen. Denn die Selenskyj-Partei nimmt keine aktuellen oder ehemaligen Abgeordneten in ihre Reihen auf. Das heißt: Bei einer vorgezogenen Wahl würde die wahrscheinlich größte Fraktion im neuen Parlament fast nur aus Polit-Neulingen bestehen.

Mit Olexander Tkatschenko befindet sich unter den ersten zehn Listenplätzen jedoch auch der Chef des bedeutenden privaten Fernsehsenders 1+1, der dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj gehört. Mit dem Milliardär soll Selenskyj in enger Verbindung stehen. So wurde die Serie "Diener des Volkes", mit der der Komiker zum Star wurde, bei 1+1 ausgestrahlt.

Ebenfalls auf den ersten zehn Listenplätzen: Dschan Belenjuk. Der Ringer mit ruandischen Wurzeln gewann bei den Olympischen Spielen 2016 eine Silbermedaille. Er hat sehr gute Chancen, der erste farbige Abgeordnete der Werchowna Rada zu werden. Programmatisch steht die Partei "Diener des Volkes" für all das, was Selenskyj bereits als Präsidentschaftskandidat vertreten hat: Liberalisierung der Wirtschaft, mehr direkte Demokratie durch Referenden, Aufhebung der strafrechtlichen Immunität für Abgeordnete, Präsident und Richter.

Ukrainischer Rockstar vor Achtungserfolg

Neben Selenskyj und seiner Partei gibt es inzwischen noch einen anderen Aufsteiger, der seine Wurzeln ebenfalls im Showgeschäft hat. Der Sänger Swjatoslaw Wakartschuk ist der wohl bekannteste ukrainische Musiker. Die von ihm angeführte Rockband "Okean Elsy" ist im gesamten postsowjetischen Raum eine Größe in der Musikbranche.

Wakartschuk hat sowohl die Orange Revolution 2004 als auch die Maidan-Revolution 2014 laut unterstützt und gilt als eine ähnlich moralische Autorität wie etwa Herbert Grönemeyer in Deutschland. Bei der Präsidentschaftswahl war er nicht angetreten, gründete nun aber eine neue Partei namens "Stimme". Deren Kandidatenliste ist voll mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Bekannte NGO-Mitarbeiter, Aktivisten und Journalisten sorgen in ihren Zielgruppen für Zuspruch für Wakartschuks nationalliberale Vereinigung.

Rockstar Swjatoslaw Wakartschuk erreicht nicht nur mit seiner Musik ein großes Publikum. Bildrechte: imago images / ZUMA Press

Auch prorussische Partei mischt vorne mit

Laut der Umfrage von "Rating Group" erreicht die "Stimme" mit 8,1 Prozent bereits den dritten Platz, Tendenz steigend. Auch hier ist neben Wakartschuk selbst, der nach der Orangen Revolution kurz im Parlament saß, kein ehemaliger Abgeordneter auf der Liste zu sehen. Sollten "Diener des Volkes" und "Stimme" tatsächlich so stark abschneiden wie in den Umfragen, würde das vor allem die von vielen Ukrainern erwartete Erneuerung der politischen Elite bedeuten.

Auf der anderen Seite ist es bemerkenswert, dass fünf Jahre nach der Krim-Annexion durch Russland die offen prorussische Oppositionsplattform um den persönlichen Freund Wladimir Putins, Wiktor Medwedtschuk, auf 11,1 Prozent und Rang zwei kommt. Die Oppositionsplattform lehnt eine Annäherung der Ukraine an die EU und die NATO ab und fordert eine großzügig gestaltete Autonomie für den umkämpften Donbass im Osten des Landes.

Timoschenko und Poroschenko treten wieder an

Die Politikveteranen des prowestlichen Spektrums müssen dagegen um das politische Überleben kämpfen. Für die zweifache frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit ihrer Vaterlandspartei sieht es dabei besser aus. Sie hat ihre feste Klientel in kleineren Städten und Dörfern. Diese ältere Wählerschaft stimmt seit vielen Jahren für Timoschenko aufgrund ihrer populistischen Forderungen etwa nach billigem Gas für die Bevölkerung. Mit aktuell 7,3 Prozent würde sie eine kleine Fraktion bekommen.

Ex-Präsident Petro Poroschenko muss dagegen bangen. Poroschenko hat seine Partei in "Europäische Solidarität" umbenannt (die Verkürzung ES steht im Ukrainischen für EU), die Parteizentrale in einen Open Space verwandelt sowie den Frauen mehr Platz in der Spitze eingeräumt. Dennoch kämpft die "Europäische Solidarität" gerade mit der Fünf-Prozent-Hürde.

Der Grund dafür könnte der Aufstieg von Wakartschuk sein. Der Rockstar tummelt sich auf ähnlichen Themenfelder wie Poroschenko, kommt aber glaubwürdiger rüber, während Poroschenko an der Listenspitze altbekannte, eher unbeliebte Politiker präsentiert. Damit steht der Ex-Präsident nach der katastrophalen Niederlage gegen Selenskyj bei der Präsidentschaftswahl womöglich vor dem zweiten Wahldesaster innerhalb weniger Monate.

Fazit

Für die Ukraine und ihre Menschen ist am Ende aber viel wichtiger, ob die absehbare Erneuerung des Parlaments auch tatsächliche Veränderungen mit sich bringt. Umfragen zufolge sind die wichtigsten Themen für die Ukrainer die Beendigung des Krieges im Donbass und die Senkung der Kommunalabgaben. Der Konflikt in der Ostukraine muss mit dem mächtigen Nachbarn Russland gelöst werden, die große finanzielle Belastung der Kommunen mit dem Internationalen Währungsfonds. Stand heute: unerfüllbar – egal, wie die neue Werchowna Rada aussehen wird.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 20. Juni 2019 | 16:30 Uhr

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