Orbáns Geschichtspolitik: neue Schulbücher, Museen und Forschungsinstitute

11. Juni 2019, 11:45 Uhr

Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás ist einer der profiliertesten Intellektuellen Ungarns und einer der schärfsten Kritiker Orbáns. Im Interview erklärt er, wie die Regierung die Geschichtspolitik beeinflusst.

Gibt es ein entschlossenes Bestreben der Regierung Orbán, Geschichtspolitik im eigenen Sinne zu beeinflussen?

Aber natürlich. Man schreibt neue Schulbücher, man macht neue Ausstellungen, es gibt neue Museen und neue Forschungsinstitute, die ganz dezidiert, mehr noch als die Staatsmedien, diese großen Narrative der ungarischen Nation verbreiten, die immer gegen die fremden Kräfte kämpft: gegen die mittelalterlichen Großreiche, das deutsche Reich, die Ottomanen, dann gegen Österreich-Ungarn, also das K.u.K.-Regime der Habsburger, dann gegen die Sowjetunion, heute gegen Europa. Europa ist dekadent, sagen diese Narrative, das will uns in ein "Mischvolk" von Weißen und Schwarzen verwandeln, in eine Rassenmischung. Europa ist dekadent, und das wahre ungarische Volk kämpft dagegen. Das sind Orbáns Geschichtstheorien: Wir sind gegen den Westen, gegen Europa, gegen Aufklärung, gegen die Liberalen.

Begriffserklärung: Was ist ein Narrativ? Der Begriff "Narrativ" stammt aus den Sozialwissenschaften. Er umschreibt eine sinnstiftende Geschichte, die Einfluss auf einen Kulturkreis oder eine Nation hat. Narrative sind keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind. Ein Beispiel: Der Spruch "Liberté, Égalité, Fraternité" aus der Französischen Revolution (1789) wurde zu einem der zentralen Narrative der Franzosen.

Aber was für ein Idee des Ungarischseins steht denn da dahinter? Das scheint ein völkisch-rassistischer Begriff zu sein.

So ist es. Ein völkisch-rassistischer Begriff von Ungarn.

Ob spricht Orbán von "Freiheit". Aber um wessen Freiheit geht es?

Das Wort "Freiheit" auf ungarisch bedeutet im politischen Gebrauch immer Unabhängigkeit. Das Wort Freiheitskampf wiederum, damit wird zum Beispiel die Revolution von 1848 bezeichnet, bedeutet übersetzt "Krieg für Unabhängigkeit", für die Unabhängigkeit des ungarischen Volkes – speziell von fremden Kräften. 

Orbáns Logik zufolge steht das Volk über dem Individuum.

Aber natürlich! Individualismus ist laut Orbán dekadent. Individualismus ist kränklich, ist pathologisch. Das ist der Diskurs der Regierung: Alle Individualisten sind schwul oder jüdisch, oder schwule Juden.

Wie bitte?!

Ich scherze nicht. Der größte Scherz ist, dass ich nicht scherze.

Was bezweckt das?

Eine Vollmacht für Herrn Orbán und seine Clique. Macht in der Wirtschaft, Macht in der Politik, Macht in der Kultur, in der Gesinnung. Das heißt Diktatur, oder? Keine Überraschung. Nichts Neues. Der Klassiker.

Gáspár Miklós Tamás Der 1948 geborene Philosoph ist einer der profiliertesten öffentlichen Intellektuellen Ungarns und einer der schärfsten Kritiker Orbáns. Er war Mitbegründer der ungarischen liberalen Partei SZDSZ und von 1990-94 Parlamentsabgeordneter. Er war Leiter des philosophischen Instituts der ungarischen Akademie der Wissenschaften und hat an zahlreichen renommierten Universitäten unterrichtet, etwa in Oxford, Georgetown und Yale. Außerdem war er an der von der ungarischen Regierung drangsalierten CEU tätig.

Über dieses Thema berichtet MDR Aktuell auch im Radio | 22.12.2018 | 02:30 Uhr

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