Unabhängigkeitstag in Polen Interview: Warum die polnische Jugend politisch nach rechts rückt

11. November 2019, 15:22 Uhr

In Polen wird heute mit Gedenkmärschen an die Unabhängigkeit des Landes vor 101 Jahren erinnert. Der größte Marsch findet traditionell in der Hauptstadt Warschau statt und wird seit Jahren auch von Rechten und Nationalisten als Bühne genutzt. Immer mehr junge Polen wählen rechts und erstmals ist auch im Parlament mit der „Konförderation“ ein ultrarechtes Wahlbündnis vertreten. Ein Interview mit dem Soziologen Michał Łuczewski.

Nach der Parlamentswahl vor knapp vier Wochen stellt Polens regierende Partei PiS (Rechte und Gerechtigkeit) wieder die Mehrheit. Die PiS wird in Deutschland schon als sehr konservativ wahrgenommen. Nun ist rechts der PiS eine weitere Partei ins polnische Parlament eingezogen. Mit welchen Themen punktet die Konföderation?

Parteien rechts von der PiS gab es immer. Es reicht aus, sich den Unabhängigkeitsmarsch anzugucken, um zu verstehen wie stark diese Fraktion im Sinne einer Mobilisierung der Wählerschaft sein kann. Die Frage ist nur, ob die "Konföderation" weiterhin am Rand existiert oder weiter ins Zentrum geschoben wird. So wie es jetzt aussieht, kommt es wohl zu einer Verschiebung in die politische Mitte.

Fragen nach Migration oder LGBT, die in Polen noch abstrakt sind, spielen durch den europäischen Mainstream auch bei uns schon eine Rolle. Darauf kann die Konföderation setzen und zeigen, dass die PiS auf diese Fragen nicht stark genug reagiert und keinen Mut hat, sich ihnen auch zu stellen.

"Konfederacja Wolność i Niepodległość" Die "Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit" ist ein Wahlbündnis aus sechs ultrarechten Parteien wie der Partei "KORWiN" und der "Nationalen Bewegung". Sie hat sich 2018 gegründet und ist am 13.10.2019 mit 6,8% der Stimmen erstmalig ins polnische Parlament eingezogen.

Die Mehrheit der jungen Polen zwischen 18 und 29 Jahren wählte die PiS. Jeder Fünfte jedoch entschied sich für die ultrarechte Partei von Janusz Korwin-Mikke. Das Wahlbündnis ist offen homophob, frauen- und ausländerfeindlich. Warum springen gerade junge Polen auf die Ideen der Konföderation an?

Es ist eine Art Rebellion der jungen Generation, die eher passiv ist. Es scheint so, und das zeigt sich auch in Untersuchungen, dass Politiker diese Generation in ihren Programmen übersehen. Wichtiger sind den Politikern ältere Menschen. Nur wenige Sozialprogramme wurden an jüngere Polen adressiert. Und genau in dieser Generation, die relativ passiv ist, und gleichzeitig versucht, sich auszudrücken, findet die Konföderation ihren Platz. Sie ist ausdrucksvoll, sie hat ausdrucksvolle Helden. Hinzukommen die sozialen Medien, die junge Leute sicherlich viel stärker als das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder die oppositionellen Fernsehsender mobilisieren können. Sicherlich hat die PiS-Regierung ganz viel von Nationalstolz und Gemeinschaftsfragen gesprochen. Aber wenn sich der Staat dazu äußert, kann das ein wenig künstlich klingen: Was können uns die Politiker von Stolz und Rebellion sagen, wenn sie doch selbst bereits dem Establishment angehören.

Mit welchen Themen punktet die Konföderation besonders?

Die liberalen Parteien haben lange nach anderen Quellen der Mobilisierung ihrer Wählerschaft als Geschichte oder Nationalstolz gesucht. Sie haben dadurch verpasst, dass Geschichte in so einem Land wie Polen sehr wichtig ist. Zum Beispiel spielt die Suche nach vergessenen Helden, den "verstoßenen Soldaten", bei jungen Menschen im Land eine große Rolle. (Anm. d. R. das sind Partisanenkämpfer, die einst gegen das kommunistische Regime kämpften.)

In Deutschland wird zurzeit heftig diskutiert, ob es bei uns Meinungsfreiheit gibt. In Polen gibt es diese Diskussion nicht so stark. Warum?

Wir Polen müssen uns nicht mit den Dämonen der Vergangenheit auseinandersetzen. Auf gewisse Weise versucht die junge Generation gerade in Deutschland, sich von der Nazi-Vergangenheit zu lösen. In Polen gibt es keinen Bedarf, sich von Faschismus, Nazitum oder Kommunismus abzutrennen. Das waren Ideologien, die von außen zu uns gebracht wurden. In dem Sinne ist die politische Bühne in Polen viel freier. Wir können einfach hier und jetzt streiten. Einerseits haben wir die Konföderation, aber man muss auch sehen, dass junge Leute größtenteils die PiS, aber auch die "Bürgerkoalition" und die Linken gewählt haben. Ich sehe einen erfrischenden Pluralismus in Polen.

Soziologe Dr. Michał Łuczewski
Bildrechte: Jakub Szymczuk

Michał Łuczewski ist Soziologe an der Universität Warschau. Der 39-Jährige forscht vor allem zu Themen wie "Nation" und "nationales Gedächtnis".

(adg)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 08. November 2019 | 17:45 Uhr

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