Kriminalität Wie Russland mit dem organisierten Verbrechen ringt

06. Mai 2019, 06:00 Uhr

Das russische Justizministerium will mit einem neuen Gesetz stärker gegen das organisierte Verbrechen vorgehen. Dazu gehören auch die "Diebe im Gesetz" – Vertreter einer kriminellen Subkultur, die auf die Sowjetzeit zurückgeht. Auf der Fahndungsliste steht etwa Oleg Pirogow, der sich bisher erfolgreich einer Verhaftung entziehen konnte. Im Fall von Zakhar Kalaschow war den Behörden 2016 eine spektakuläre Verhaftung gelungen.

Wie Trophäen liegen seine Männer vor der Garageneinfahrt, Gesicht nach unten, Arme hinter den Kopf. Aus dem Garagentor lugt eine schwarze Mercedes-Limousine. Hausherr Zakhar Kalaschow sitzt derweil in der Küche seiner Residenz, die Arme hinter dem Rücken verbunden. "Was ist ihre Stellung in der kriminellen Welt", fragt die Stimme eines Polizeibeamten. "Ich kommentiere nichts", antwortet der 66-Jährige.

Stolz präsentiert der russische Inlandsgeheimdienst FSB die Aufnahmen von Kalaschows Festnahme im Jahr 2016. Schließlich galt er einst als einflussreicher Mafiosi, ein "Dieb im Gesetz" wie sich Russlands Top-Ganoven seit vielen Jahrzehnten bezeichnen. Den meisten Russen war er aus den Nachrichten unter dem Namen "Schakro der Junge" bekannt. Dennoch konnten ihm Sicherheitsorgane nichts anhängen, bis sich seine Männer in den Streit zweier Moskauer Geschäftsfrauen einmischten – und eine von ihnen Schutz bei ehemaligen Geheimdienstlern suchte. Am Ende kam es zu einer Schießerei mitten in Moskau mit zwei Toten. Später versuchte Schakro seine Männer mit einer Schmiergeldzahlung an hohe Beamte der Ermittlungsbehörde freizukaufen.

Der Versuch scheiterte und es folgte ein Prozess, der Russland über Wochen im Atem hielt. Am Ende wanderte Kalaschow alias Schakro für zehn Jahre in den Knast. Aus heutiger Sicht fast schon ein glücklicher Umstand für ihn. Denn wenn damals bereits Putins neues Gesetz in Kraft gewesen wäre, hätten ihm allein für seine Stellung innerhalb der Kriminellen-Hierarchie bis zu 15 Jahre Haft gedroht. Anfang 2019 hatte der Föderationsrat ein entsprechendes Gesetz gebilligt, das zuvor von der Duma abgenickt worden ist. Damit wollen Russlands Behörden der alten Ganoven-Aristokratie den letzten Todesstoß verpassen.

Gangsterkodex aus sowjetischen Lagern

Was genau das Justizministerium dazu veranlasste, das neue Gesetz auszuarbeiten, ist seitdem Gegenstand von Spekulationen. Zu dreist war die Schießerei mitten in Moskau und der anschließende Bestechungsversuch der Ermittlungsbehörde, wird in Moskau gemutmaßt. Fest steht jedoch, dass sogenannte "Diebe im Gesetz" zuletzt eine immer kleinere Rolle gespielt haben. Der ungeschriebene Ehrenkodex der Kriminellen entstand ursprünglich in den 1930er Jahren in den sowjetischen Lagergefängnissen. Die Journalistin Tatjana Zwerintsewa befasst sich seit Jahren mit dem Thema:

Die Häftlinge, die sich zu den Dieben im Gesetz zählten, hassten die Sowjetmacht und sahen sich als Verfechter der alten Verbrechertraditionen aus der Zeit vor der Oktoberrevolution.

Tatjana Zwerintsewa, Journalistin

So ist es den "Dieben" verboten mit dem Staat zu kooperieren, einer gewöhnlichen Arbeit nachzugehen, zu heiraten oder in der Armee zu dienen. Stattdessen galten etwa Raubüberfälle, Wohnungseinbrüche und alle Formen von Wirtschaftskriminimalität als angemessen. Zum "Dieb im Gesetz" konnte man nur auf einer Versammlung angesehener Krimineller ernannt werden. Auch ein Mord konnte nur mit Erlaubnis dieser Versammlung oder zum eigenen Schutz begangen werden. Zudem etablierten sich mit der Zeit gemeinsame schwarze Kassen, als eine Art Sozialversicherung, in die ein Teil der Beute floss.

Geschäft mit Erpressung

Die Blütezeit dieser kriminellen Aristokratie ist allerdings längst vorüber. Vor allem in den 1990er-Jahren strömten viele Neulinge in die Mafia-Strukturen, die sich wenig um die alten Regeln kümmerten, meint Tatjana Zwerintsewa. Aktuell schätzen Experten die Anzahl der "Diebe im Gesetz" auf gut 400. Etwa 70 von ihnen seien laut Angaben der Nachrichtenagentur Prime Crime, die sich auf Recherchen im Bereich der Kriminalität spezialisiert, öffentlich bekannt und lebten unter offizieller Adresse. Zu ihrem Geschäft zählt heute etwa, Unternehmen zu erpressen und von ihnen Schutzgeld zu fordern.

Der Fall Oleg Pirogow

2019 strahlte der staatliche Sender Rossija 24 eine verdeckt aufgezeichnete Aufnahme eines Treffens zweier Männer mit dem Besitzer einer Kiesgrube im Moskauer Umland aus. Darauf fordern die beiden Männer 200.000 Euro – oder die Übertragung der Firma wegen angeblicher Schulden. Später ermittelte die Polizei, dass die Männer im Auftrag von Oleg Pirogow gehandelt haben sollen, einem polizeibekannten "Dieb im Gesetz". Seitdem gilt Pirogow als aussichtsreicher Kandidat, als Erster die Härte des neuen Gesetzes zu spüren zu bekommen. Bisher fahndet die Polizei jedoch vergeblich nach dem 42-Jährigen.

Experten bleiben skeptisch, ob das Gesetz der alten Mafia-Garde den Garaus machen kann. "Die Diebe sind, verglichen mit anderen Vertretern organisierter Kriminalität, sehr anpassungsfähig", sagt etwa Viktoria Gefter, Leiterin der Agentur Prime Crime. Sie würden sehr vorausschauend auf potenzielle Gefahren reagieren. Andere ehemalige Sowjetrepubliken gehen ähnlich gegen die "Diebe im Gesetz" vor – und mit großem Erfolg. So wurden allein in Georgien, wo die kriminelle Subkultur ebenfalls weit verbreitet war, nach offiziellen Angaben 56 Personen verhaftet, die mit kriminellen Netzwerken in Verbindung standen. 

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | 24.01.2017 | 21:15 Uhr

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