Nach Bildungsreform Schulchaos in Polen: Tausende Schüler fürchten um Abitur

16. August 2019, 05:00 Uhr

Kurz vor Schulbeginn haben Tausende Schüler in Polen noch keinen Platz an einer weiterführenden Schule. Denn durch eine Schulreform müssen sich zwei Jahrgänge auf eine Klassenstufe bewerben. Viele fürchten um ihr Abitur.

Eine böse Überraschung gab es diesen Sommer für viele tausend Schüler in Polen. Nach dem Abschluss der achten Klasse haben sie keinen Platz an einer weiterführenden Schule erhalten und stehen nun auf Wartelisten. Viele wissen noch nicht, ob und wo sie nach dem Ende der Sommerferien Anfang September zur Schule gehen werden.

Doppelte Bewerberzahl durch Schulreform

Hintergrund des Chaos ist eine Schulreform der nationalkonservativen PiS-Regierung, die bereits 2017 beschlossen wurde. Die Grundschule wurde von sechs auf acht Jahre verlängert, die ehemalige Mittelstufe (Klasse 7 bis 9) abgeschafft. Für die drei weiterführenden Schultypen ab Klasse neun müssen sich die Schüler aber ähnlich wie für Studienplätze in Deutschland bewerben.

Durch die Reform gibt es diesen Sommer daher gleichzeitig Schüler, die die achtjährige Grundschule nach dem neuen System abgeschlossen haben, sowie Jugendliche, die noch nach dem alten System an einer Mittelschule unterrichtet wurden und neun Schuljahre hatten, bevor sie sich für eine weiterführende Schule bewerben.

Dadurch haben sich in diesem Jahr gleich zwei Jahrgänge von Schülern für die Plätze an den weiterführenden Schulen beworben, die nun mit der Klasse 9 beginnen. Statt 340.000 Schülern konkurrieren so polenweit 700.000 Jugendliche um die Plätze, die nach Leistung vergeben werden.

Absehbarer Andrang, kaum Vorsorge

Durch den Andrang stehen alleine in der Hauptstadt Warschau noch 4.000 Schüler ohne Platz an einer Schule da und werden auf Wartelisten geführt. In Polens zweitgrößter Stadt Krakau sind circa 2.500 Schüler betroffen. Obwohl diese Situation seit der Einführung der Reform absehbar war, wurde jedoch kaum vorgesorgt, beklagt etwa Warschaus Bürgermeister Rafał Trzaskowski.

Auf einer Pressekonferenz Anfang Juli sagte er, dass die Hauptstadt es mit einem totalen Chaos zu tun habe und die PiS-Regierung daran schuld sei: "Lokale Behörden, Experten, Lehrer und Eltern - wir alle haben vor den Auswirkungen Veränderung gewarnt. Leider haben sich alle Befürchtungen erfüllt."

Die Stadt Warschau hätte dieses Jahr mit 43.000 Plätzen an weiterführenden Schulen zwar doppelt so viele wie im Vorjahr bereitgestellt. Doch selbst die neu geschaffenen Plätze reichten nicht aus, um den Bedarf zu decken, so Bürgermeister Trzaskowski.

Bildungsministerin verteidigt Reform

Seit die PiS die Schulreform im Jahr 2015 vorgestellt hat, gibt es in Polen Kritik und Proteste dagegen. So unterschrieben bereits in gleichen Jahr 250.000 Menschen eine Petition gegen die Schulreform. Die damalige Bildungsministerin Anna Zalewska bügelte die Proteste jedoch ab und versprach bei der offiziellen Vorstellung der Reform im Sommer 2016, Lehrer und Schüler würden nicht von der Reform beeinträchtigt.

Ministerin Zalewska wechselte kurz vor Schuljahresende im Juni als Abgeordnete in das Europaparlament. Sie verteidigte die Reform aber in einem Interview mit der polnischen Boulevardzeitung "Fakt". Schuld an dem Chaos seien die Schüler selbst, die sich teilweise an 20 Schulen gleichzeitig beworben hätten, sowie die Kommunen, die das zugelassen hätten.

Schüler fürchten um Abitur

Zalewska zufolge löst sich das Problem von selbst, wenn die Plätze endgültig verteilt sind. Denn da manche Schüler an mehreren Schulen angenommen wurden, würden einige Plätze wieder frei und an die Nachrücker verteilt werden. "Jedes Kind wird einen Platz bekommen. Wenn nicht an der Schule erster Wahl, dann auf jeden Fall an einer anderen", so Zalewska.

Was für eine Schule das ist, ließ die ehemalige Bildungsministerin offen. Denn den größten Bewerberandrang gab es an Schulen, die zum Ablegen der "Matura" qualifizieren, dem polnischen Abitur. Daher sind auch die meisten Schüler auf Nachrückplätzen solche, die das Abitur anstreben.

Sie fürchten nun, zwangsweise an eine Schule gehen zu müssen, die nicht zu einem Hochschulstudium qualifiziert. Berechnungen zufolge werden zudem auch an den Universitäten die Plätze knapp, wenn alle Schüler, die jetzt in die neunte Klasse wechseln, in vier Jahren ihre Matura ablegen.

Auf dem Weg zum "Bildungsarmageddon"

Mit dem jetzigen Chaos bei der Einschreibung an den weiterführenden Schulen würde das Problem aber erst beginnen, errechnete die linksliberale Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". So drängen noch bis 2023 immer mehr "doppelte Jahrgänge" an die weiterführenden Schulen, während diese nur von alten Jahrgängen mit weniger Schülern abgeschlossen werden. So seien dann im Schuljahr 2022/23 faktisch vier "doppelte Jahrgänge" gleichzeitig an den weiterführenden Schulen.

Das Szenario für den Schulalltag in diesen Jahren beschrieb die Wyborcza bereits im Mai so: "Klassen mit 36 oder 38 Schülern, Unterricht bis 17:30 oder 18:00 Uhr, wo immer es geht: in Klassenräumen, aber auch auf Korridoren und in Bibliotheken. Und das bei einem schon jetzt bestehenden Mangel an Lehrern." Die griffige Überschrift des Artikels wurde mittlerweile in Polen zum geflügelten Wort: "Armageddon an den Schulen".

(adg/ahe)

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